Lilienblut
einfach aufs Bett geworfen. Als Sabrina die Kleider wiedererkannte, war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie setzte sich auf die Bettkante und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie achtete darauf, leise zu sein, denn sie wollte Wanda nicht noch mehr belasten. Amelie hatte bunte, fröhliche Farben geliebt. Dass ein Haufen Kleider alles war, was von ihr übrig bleiben würde, war schwer zu begreifen.
Um sich abzulenken, begann Sabrina, die Sachen zusammenzulegen und ordentlich im Schrank zu verstauen. Als sie das geschafft hatte, zog sie die Bettdecke glatt und nahm sich die Reisetasche vor. Als Erstes fiel ihr der Teddy in die Hände,
und wenn sie bis jetzt noch einen Zweifel gehabt hatte, ob das richtig war, was sie tat, war er in diesem Moment verflogen. Sie fand die Plastiktüte mit dem T-Shirt und der Jeans, die ihr Amelie geliehen hatte. Noch einmal wollte sie der Schmerz überwältigen, aber sie ließ es nicht zu und arbeitete weiter.
In einer Seitentasche fand sie drei Kondome. Das waren Dinge, die Müttern nicht unbedingt in die Hände fallen sollten. Sie steckte sie ein und wusste, dass ihre Freundin damit einverstanden gewesen wäre. Dann fand sie das Tagebuch.
Sabrina setzte sich hin und hielt es lange in den Händen. Schließlich verstaute sie die leere Tasche unter dem Bett und ging hinüber ins Wohnzimmer. Wanda hatte einen Gewinnspielsender gefunden und sprach stumm einzelne Buchstaben nach.
»Darf ich das behalten?«
Amelies Mutter kniff die Augen zusammen, um den Gegenstand besser erkennen zu können. Dann lächelte sie schwach. »Das hat sie zur Einschulung bekommen. Sie hat es nie benutzt.«
»Ich würde es trotzdem gerne haben. Als Erinnerung.«
»Dann nimm es. Sabrina? Du sagst doch was?«
Sabrina hatte Wandas Bitte schon fast vergessen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, auf der Beerdigung das Wort zu ergreifen. Dann sah sie das Flehen in Wandas Augen und sie nickte.
Wanda atmete auf. »Dann bis Montag.«
»Bis Montag«, sagte Sabrina.
Das war nicht mehr viel Zeit. Kaum zu Hause angekommen, verstaute sie das Tagebuch in ihrer Nachttischschublade. Sie hatte keine Ahnung, warum sie ausgerechnet diese Erinnerung an Amelie mitgenommen hatte. Sie würde diese Zeilen niemals lesen, denn die Geheimnisse ihrer Freundin sollten auch nach ihrem Tod Geheimnisse bleiben. Aber seltsamerweise fühlte sie sich mit einem Mal besser. Es war, als ob ein Trost davon ausging, dass ein Teil von Amelie in ihrer Nähe blieb.
Zwei Tage später fand Sabrina die Todesanzeige in der Zeitung. Sie war recht klein geraten, mit einem nichtssagenden Standardtext und dem Termin für die Beisetzung. Franziska Doberstein versprach, Sabrina zu begleiten. Beide vermuteten, dass es wohl ein recht kleiner Kreis sein würde. Als es Montag geworden war und sie in der Kirche eintrafen, waren sie überrascht. Dass er so klein war, damit hatten sie nicht gerechnet.
Erschienen waren Amelies Eltern, ihr Bruder Reinhold, der Berufssoldat bei der Bundeswehr war und immer in Eile schien, Amelies Klassenlehrerin aus der Schule, die auch Sabrina kannte, und die Dobersteins. Den ganzen Weg zum Friedhof hoffte Sabrina, dass doch noch jemand zu ihnen stoßen würde. Luigi vielleicht, der doch immer in höchsten Tönen von ihr geschwärmt hatte. Michi, der so verschossen in sie gewesen war. Ein paar ehemalige Klassenkameradinnen, die Amelie noch von der Mittleren Reife kennen müssten. Vielleicht einer von denen, die doch ein bisschen mehr für sie übrig gehabt hatten als eine Nacht. Doch sie blieben unter sich. Am offenen Grab sprach der Pfarrer noch ein paar Worte. Wanda schluchzte, und Wilfried gab sich Mühe, einigermaßen nüchtern zu erscheinen. Reinhold zupfte an seiner Uniform und sah so aus, als ob er lieber einen Einsatz in Kabul angenommen hätte, als hier zu erscheinen. Franziska hatte einen wunderschönen Strauß weiße Lilien dabei, Amelies Lieblingsblumen, den sie nun in das offene Grab auf den Sarg warf. Es war die kläglichste Beerdigung, die Sabrina sich hätte vorstellen können.
Plötzlich hörte sie schnelle Schritte auf dem Kies. Kilian, schoss es durch Sabrinas Herz. Er hat es gehört. Er kommt hierher und er wird alles aufklären. Hastig drehte sie sich um. Lukas Kreutzfelder eilte auf sie zu.
»Das ist ja eine Überraschung«, murmelte Franziska. Schon hatte Lukas sie erreicht. Er trat auf Wilfried und Wanda zu, schüttelte ihnen die Hand und sagte »Mein Beileid.«
Dann kam er zu Sabrina und Franziska und
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