Lilienblut
Haus und versuchte, ihrer Tochter alle Wünsche von den Augen abzulesen. Das Dumme war nur: Sabrina hatte keine Wünsche. Sie wollte allein sein und starrte dann stundenlang an die Decke. Am Montag ging Franziska wieder zum Weinberg, nicht ohne vorher hundertmal zu fragen, ob sie Sabrina auch alleine lassen könnte.
Ab und zu hatte ihre Mutter versucht, mehr herauszubekommen. Was hatte Amelie auf dem Schiff gewollt? Woher kam es? Wie konnte ein Fremder den toten Fluss kennen? Sabrina antwortete einsilbig, meist saß sie da und zuckte nur mit den Schultern. Sie wusste selbst nicht, was passiert sein konnte. Amelie hatte Kilian getroffen, er war verschwunden, und Amelie war tot. Mehr schreckliche Wahrheit gab es nicht.
Als am Dienstag Frau Fassbinder ihren Besuch ankündigte, schien Franziska aufzuatmen. Vielleicht gelang es ja der Kommissarin, Sabrina zum Reden zu bringen. Doch zunächst sah es nicht danach aus. Sabrina saß im Wohnzimmer auf dem Sofa, Frau Fassbinder und eine Polizistin hatten ihr gegenüber Platz genommen, und Franziska wieselte dauernd in die Küche, um Kaffee, dann Milch, dann Zucker, dann Kekse zu holen. Währenddessen sahen sich die beiden Besucherinnen um.
»Die Medaillen dort, haben Sie die für Ihren Wein bekommen?«
Sabrina nickte.
Franziska, die sich gerade gesetzt hatte, sprang wieder auf. »Möchten Sie ein Glas? Wir hatten letztes Jahr eine fantastische Auslese. Die Jahrgänge werden immer besser. Das macht die Klimakatastrophe, sagen sie hier. Des einen Freud …« Sie brach ab.
»Nein. Danke.« Frau Fassbinder schüttelte den Kopf. Dann holte sie Amelies Tagebuch aus ihrer Aktentasche. Der Anblick war für Sabrina ein Schock.
»Wir haben dieses Buch in Amelie Bogners Reisetasche gefunden.« Sie wendete es einmal auf die Rückseite und begutachtete es. Sabrina konnte sich denken, welche Gedanken im Kopf der Kommissarin herumspukten. Achtzehnjährige, die in Einhorntagebücher schrieben, waren in ihren Augen wohl zurückgeblieben.
»Kennen Sie es?«
Sabrina nickte.
Frau Fassbinder klappte es auf. »Ihre Freundin erwähnt hier mehrfach einen Jungen mit Namen Lukas.«
»Lukas Kreutzfelder«, flüsterte Sabrina.
Die Kommissarin nickte. »Richtig. Wir haben ihn auch schon zu seinem Verhältnis zu Amelie Bogner befragt. Er sagt, sie kannten sich flüchtig.«
In der darauf folgenden Stille wurde Sabrina klar, dass man wohl eine Antwort von ihr erwartete. »Ich glaube, er wollte mehr von ihr als sie von ihm.«
»Wirklich?«, fragte Franziska. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Der Sohn vom großen Kreutzfelder ist bei Amelie abgeblitzt. Das hättest du nicht gedacht, was?«
»Entschuldige bitte. Aber ich habe noch nicht einmal gewusst, dass die beiden sich kennen.«
Frau Fassbinder blätterte durch das Buch. »Die Eintragungen bestätigen Ihren Eindruck, Sabrina. Allerdings fehlen einige Seiten. Jemand hat sie herausgerissen. Wir nehmen an, dass sie aus dem Zeitraum der letzten beiden Tage vor Frau Bogners Tod stammen.«
Frau Bogners Tod. Sabrina schluckte.
»Haben Sie eine Ahnung, was sie geschrieben haben könnte? Und wo die Seiten jetzt sind?«
»Nein«, flüsterte Sabrina.
Die Polizistin in Uniform nahm mit einem dankbaren Kopfnicken eine Tasse Kaffee entgegen.
Frau Fassbinder steckte das Tagebuch wieder weg. Aber sie war noch nicht fertig. »Dieses geheimnisvolle Schiff, von dem Sie erzählt haben, muss tatsächlich existieren. Es hat die Einfahrt in den Seitenarm ziemlich ramponiert. Allerdings muss der Schiffer danach sehr vorsichtig gewesen sein. Es gibt keine Spur von ihm.«
Sabrina sah auf die Holzmaserung des Couchtisches. Sie verfolgte die Linien und versuchte, alles, was Frau Fassbinder sagte, an sich abprallen zu lassen.
»Kannst du mir ein bisschen mehr über ihn erzählen?«
Er ist kein Mörder, dachte Sabrina. Ich kann doch nicht Herzklopfen bei einem Mörder bekommen haben. Und Amelie erst. Liebe auf den ersten Blick. Das passiert doch nicht bei jemandem, der einen wenig später umbringt. Oder etwa doch?
»Sabrina?«
Sie sah hoch und räusperte sich. »Ich weiß nichts von ihm. Wir haben das Schiff entdeckt und dann sind wir miteinander ins Gespräch gekommen.«
»Du warst mit Amelie auf diesem Schiff?«, entfuhr es Franziska.
Frau Fassbinder unterdrückte ein leises Seufzen. »Bitte, Frau Doberstein.« Dann wandte sie sich wieder an Sabrina. »Ist dir irgendetwas aufgefallen?«
»Nein. Es war ein altes Schiff. Er wollte weiterfahren, in den
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