Lilienblut
Sabrina über die Schulter zu.
Die ersten Takte von »Griechischer Wein« klangen durch den Raum. Sabrina nickte dem Wirt zu und ging zur Tür.
»Schlimm mit dem Mädel.«
Der linke der beiden Männer in der Ecke, ein vierschrötiger Kerl mit einem Brustkorb wie ein Bierkasten, nickte ihr zu. Sabrina achtete nicht auf ihn.
»Die Sehnsucht kann ein Fluch sein.«
Es war schon dunkel, als ich durch Vorstadtstraßen heimwärts ging …
Sie blieb stehen. »Was sagen Sie da?«
Da war ein Wirtshaus, aus dem das Licht noch auf den Gehweg schien …
»Die Sehnsucht.« Er stierte sie an. Sabrina wurde unbehaglich zumute. »Ein Fluch.«
Ich hatte Zeit, und mir war kalt, drum trat ich ein …
»Was wissen Sie über die Sehnsucht?«
Da saßen Männer mit braunen Augen und mit schwarzem Haar …
»Die Sehnsucht?«, kicherte sein Nebenmann, ein biestiger Gnom mit verkniffenem Gesicht, auf dem sich ein hämisches Grinsen breitmachte. »Alles, wonach der Sehnsucht hat, ist das hier.«
Er hob ein leeres Schnapsglas. Tatsächlich schien der andere Mann vergessen zu haben, was er gesagt hatte. Er brummelte Unverständliches und ließ das Kinn auf die Brust sacken.
»Gib ihm einen aus und er erzählt dir alles.« Der Gnom beugte sich vor und musterte Sabrina mit gierigen Augen. »Alles, wonach du Sehnsucht hast …«
Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde …
Sabrina sah sich den Gnom genauer an. »Berti?«
Erschrocken darüber, sein Gift nicht mehr in der schützenden Anonymität des Namenlosen verspritzen zu können, riss er die Augen auf und gab seinem Gesicht einen gewollt harmlosen Eindruck. »Hab’s nicht so gemeint.«
»Woher kennt er die Sehnsucht?«
»Keine Ahnung«, nuschelte Berti. »Redet dummes Zeug. Säuft zu viel.«
Der kräftige Mann seufzte abgrundtief. »Schiffe … Schiffe soll man nicht aufhalten.«
»Geh, Mädchen«, sagte der Gnom. Er sah besorgt aus. »Hör nicht auf ihn. Geh. Du hast hier nichts zu suchen. Er kennt keine Sehnsucht. Keiner von uns hier kennt sie mehr. – Geh!«
Das letzte Wort spuckte er ihr fast ins Gesicht. Sabrina floh, raus ins Licht, an die Luft, doch die Klänge der Jukebox verfolgten sie, bis sie ganz außer Atem vor dem Mietshaus stand, das sie so gut kannte. Sie musste mehrmals klingeln, bis sie Wandas dünne Stimme aus dem Lautsprecher hörte und der Türöffner summte. Bisher hatte Amelie immer aufgeschlossen. Frau Bogner empfing sie mit hochrotem Kopf und Sabrina murmelte eine Entschuldigung. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, die Frau aus ihrem Sessel hochgejagt zu haben.
»Ist schon gut, ist schon gut«, schnaufte Wanda und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie ließ sich in ihre Kuhle fallen, griff zur Fernbedienung und zappte so lange herum, bis Sabrina sie ihr sanft aus der Hand nahm.
»Die Beerdigung«, sagte sie. »Wann ist sie?«
»Montag«, nuschelte Frau Bogner. »St. Georgen, um zehn.« Ihre Augen schwammen in Tränen. Sie griff zu einer Kleenex-Schachtel, riss ein Papier heraus und schneuzte sich heftig. »Kommst du?«
»Natürlich.«
»Ich dachte, ich setze eine Anzeige in die Zeitung. Dann lesen das alle, die sie kennen. Und dann können sie kommen. Ist das gut?«
Sabrina nickte. Sie streichelte Wandas Hand.
»Ich weiß ja nicht, wer ihre Freunde waren. Alle haben sie gemocht. Aber du bist die Einzige, die sie immer mit hergebracht hat.« Sie brach ab. Wieder tropften Tränen aus ihren Augen. Sie wollte nach der Fernbedienung greifen, als ob sie sich daran festhalten wollte, dann ließ sie es bleiben. »Sagst du was? Auf der Beerdigung?«
»Ich?«, fragte Sabrina.
»Ich kann nicht. Und Willy, Willy …«
»Ich hab ihn grade in der ›Sonne‹ gesehen.« Die Erinnerung an die dunkle Wirtsstube machte Sabrina beklommen. Schnell verscheuchte sie alles aus ihrem Kopf, was mit Sehnsucht, Berti und griechischem Wein zu tun hatte.
Frau Bogner nickte. »Gestern haben sie uns ihre Sachen gebracht. Ich hab die Tasche in ihr Zimmer gestellt. Ich kann das noch nicht. Auspacken und wegpacken. Ich kann das nicht.« Sie zupfte gleich einen ganzen Stapel Papiertücher aus der Verpackung und drückte den flauschigen Berg in ihr Gesicht.
»Soll ich das machen? Ich würde auch gerne noch einmal ihr Zimmer sehen.«
»Natürlich, mein Kind. Natürlich.«
Amelies Zimmer sah so aus, wie sie es verlassen hatte. Ein ziemliches Chaos, denn offenbar hatte sie bei der Auswahl der Dinge, die sie mitnehmen wollte, den halben Schrank ausgeräumt und die Sachen
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