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Lilienblut

Lilienblut

Titel: Lilienblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Herrmann
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Kopf. Er drosselte die Geschwindigkeit, weil ihm ein Ausflugsschiff entgegenkam. Der Motor tuckerte leise. Er wich fast bis an die Grenze der Fahrrinne aus und hörte eine scheppernde Stimme aus den Lautsprechern des Dampfers. Fröhliche Menschen saßen an Deck und winkten ihm zu. Mechanisch wie eine Marionette hob er den Arm und erwiderte den Gruß.
    Wien. Budapest. Vukovar. Belgrad. Bis nach Constanta, dem »Rotterdam am Schwarzen Meer« würde er noch eine Woche brauchen. Dann wäre er in Sicherheit. Die alten Papiere würden genügen, niemand würde nach seinem Woher und Wohin fragen. Und auch er würde keine Fragen stellen. Es gab genug, was transportiert werden musste von Sevastopol nach Jalta, von Varna nach Odessa. In ein paar Jahren würde sich niemand mehr erinnern. Er würde fremde Sprachen sprechen und alles vergessen, alles, und vielleicht würde er eines Tages wieder lernen können, einfach nur zu schlafen.
    Plötzlich sah er sie vor sich, hörte ihr Lachen, als sie auf einmal vor ihm gestanden hatte mit ihrer Reisetasche. Ihre Augen hatten gestrahlt in der absoluten Gewissheit, dass niemand ihr eine Bitte abschlagen würde. Schon gar nicht so jemand wie er. War es sein überraschtes Gesicht gewesen, das ihn verraten hatte, oder seine plötzliche Nervosität?
    »Mach mir nichts vor«, hatte sie gesagt. »Keiner darf wissen, dass du hier bist. Und ich werde es auch niemandem sagen, wenn du mich ein Stück mitnimmst.«
    Sie kam näher, so nahe, dass er ihren Duft riechen konnte. Es war der gleiche Duft wie damals, und das allein hätte schon genügt, ihn um den Verstand zu bringen. Woher wusste sie das alles?
    »Es sind deine Augen«, hatte sie geantwortet, noch bevor er ihr
eine Frage gestellt hatte. »Ich kann in dich hineinsehen wie auf den Grund eines glasklaren Sees. Du bist ein Wanderer.« Und sie war noch näher gekommen. So nahe, dass er das Pochen ihres Blutes unter der alabasterweißen Haut ihrer Schläfe erkennen konnte.
    »Ein Wanderer wie ich. Nimm mich mit. Nur ein Stück. Und ich werde dich nicht verraten.«
    Sie stand direkt vor ihm. Er hatte noch immer das Messer in der Hand. Er sah herab und bemerkte, wie einige Tropfen Blut auf die Planken fielen und wie er plötzlich zu zittern begann, weil sie ihre Hand hob und ihm damit sanft über die Haare strich. Er war solche Berührungen nicht gewohnt. Sie erschreckten ihn, er schlug sie weg, die Hand, und sie stolperte vor Überraschung einen Schritt zurück …
    Das Hupen riss ihn brutal heraus aus seinen Gedanken. Nur mit Mühe konnte ihm ein kleines Freizeitboot ausweichen. Er war viel zu weit nach backbord geraten. Er drosselte den Motor und hörte, wie das rostige Eisen des Schiffes ächzte und stöhnte. Aufpassen, sagte er sich. Du musst aufpassen. Darfst dich nicht ablenken lassen. Sei auf der Hut. Immer. Tag und Nacht. Vor allem nachts.
    Dürnstein kam in Sicht. Und als ob man nur auf ihn gewartet hätte, schlug die nächste Glocke an.

ZEHN
    Der Sommer glühte aus in einem warmen Herbst. Die Farben wurden milder und die Tage erhoben sich aus zarten Nebelschleiern und dufteten nach reifem Korn und feuchtem Laub.
    Sabrina konnte sich nicht erinnern, jemals so viel gearbeitet zu haben. Sie stand frühmorgens auf, ging in den Weinberg und kam erst wieder zurück, wenn es dunkel wurde. Hochbinden, Jäten, Düngen und Harken waren Tätigkeiten, die sie ablenkten und ihr das Gefühl gaben, etwas Sinnvolles zu tun. Der Schmerz über den Verlust von Amelie hatte sich in ihrem Bauch zusammengerollt wie ein kleines, glühendes Knäuel. Im Lauf der Zeit gewöhnte sie sich an das Gefühl wie an ein unsichtbares Haustier, das auf Schritt und Tritt bei ihr war und nur manchmal erwachte und seine spitzen Krallen ausfuhr.
    Es war in der ersten Septemberwoche, als Franziska Doberstein die Sprache auf das Thema brachte, das sie bisher weiträumig gemieden hatten.
    »Nächste Woche beginnt die Schule wieder.«
    Sabrina putzte gerade die Fässer im Anbau. Nicht mehr lange und die Lese würde beginnen. Bis dahin musste alles vorbereitet sein.
    »Ich würde gerne wissen, wofür du dich entschieden hast.«
    Das kleine Tier regte sich. Wie immer, wenn ein Gedanke gedacht werden musste, der im weitesten Sinne mit Amelie zu tun hatte. Manchmal fragte sich Sabrina, ob sie immer noch hier wäre, wenn Amelie noch leben würde. Oder ob sie tatsächlich nicht schon längst über eine Weide Argentiniens galoppieren, in New York City mit einem Coffee to go über die

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