Lilienblut
Madison Avenue hetzen oder in der Arktis Eisbären zähmen würde.
Franziska trat auf sie zu und nahm ihr den Schwamm aus der Hand. Ende der Schonzeit. »Wir haben dich im Frühjahr auf deinen Willen hin angemeldet. Du kannst also hingehen und weitermachen. Du kannst auch immer noch eine Ausbildung beginnen. Beide Türen stehen dir offen. Du hättest die Möglichkeit, in zwei Jahren schon nach Geisenheim auf die Fachhochschule zu gehen, oder du entscheidest dich für ein Studium an einer Universität. Der Berg läuft nicht weg. Aber dein Leben, das musst du jetzt endlich in die Hand nehmen.«
Sabrina hatte es bis jetzt kein einziges Mal übers Herz gebracht, auch nur einen Fuß auf Dobersteins Jüngsten zu setzen. Am liebsten wäre ihr gewesen, man hätte in beiderseitigem Einvernehmen den Pachtvertrag vergessen.
»Irgendetwas musst du wieder anfangen.«
»Ich muss, ich muss!« Sabrina schnappte sich wieder den Schwamm und scheuerte weiter. »Ich will aber nicht müssen.«
Franziska seufzte. »So kommen wir nicht weiter. Ich weiß, dass dich das mit Amelie aus der Bahn …«
» Das mit Amelie hat damit nichts zu tun«, fauchte Sabrina. »Ich brauche einfach mehr Zeit.«
»Die hattest du in den letzten Wochen genug.«
Sabrina hatte es versucht, weiß Gott. Wieder und immer wieder. Doch sie konnte keine Entscheidung treffen, solange der Schmerz in ihr kratzte und wühlte, sobald sie auch nur ansetzte, einen winzigen Schritt vorwärts zu gehen. Als ob sie das wegführen würde von der Erinnerung an ihre Freundin und ihr Innerstes sich mit aller Macht dagegen wehrte. Fast sechs Wochen waren vergangen und vom Täter hatte man immer noch keine Spur. Die Fahndung lief, Interpol war eingeschaltet, doch weder in Deutschland noch in den anderen Ländern entlang der Ufer von Rhein und Donau hatte man Kilian gefunden.
Obwohl es nie deutlich ausgesprochen wurde, war er unmerklich vom Zeugen zum Hauptverdächtigen geworden.
Sabrina spürte das an der Art, wie die Kommissarin über ihn redete. Es gab keine Spur, keinen Hinweis auf den Täter. Nur Sabrinas Aussage, die nun, mit Abstand betrachtet, tatsächlich ein anderes Bild auf Kilian warf. Sie fühlte sich wie in zwei Hälften zerrissen. Die eine glaubte nicht an seine Schuld, die andere nicht an seine Unschuld. Es war zum Verzweifeln.
»Ich gehe zur Schule«, sagte sie plötzlich.
Franziskas Gesicht versteinerte. Natürlich hatte sie gehofft, Sabrina doch noch an das Weingut zu binden. Diese Entscheidung war ein Schlag für sie, aber sie hatte ihre Tochter ja selbst vor die Wahl gestellt.
»Gut«, sagte sie kurz. Und dann, als Vorsorge für den Moment, in dem sie ihr Ich-hab-es-ja-schon-damals-gesagterinnerst-du-dich? -Gesicht aufsetzen würde: »Da wirst du dich aber ein bisschen mehr anstrengen müssen als bisher.«
Franziska drehte sich um und verließ den Anbau. Sabrina pfefferte den Schwamm in den Eimer und hockte sich auf den Boden. Das eine war so gut wie das andere. Statt im Weinberg würde sie eben über den Schulbüchern schwitzen. Zumindest hatte sie so noch einen Aufschub herausgeholt, bevor sie sich endgültig entscheiden musste. Wenn sie sich vorstellte, wo sie jetzt mit Amelie sein könnte …
Aber diese Gedanken waren sinnlos. Sabrina fühlte sich wie ein Ball auf den Wellen, hin- und hergeworfen zwischen »Was wäre wenn« und »Du musst« und »Ich will nicht«. Am Schlimmsten war das Gefühl, dass Amelie sie verraten und verlassen hatte. Ihre Reisetasche war nicht nur für eine Nacht gepackt worden. Kein Mensch nahm seinen Ausweis, Kreditkarten und Zeugnisse zu einem romantischen Abend mit. Aber all das hatten die Beamten gefunden und Wanda erst viel später zurückgegeben. Amelie hatte vom ersten Moment an die verrückte Idee gehabt, mit Kilian durchzubrennen. Sie hatte gewusst, dass Sabrina sich auf so ein Abenteuer nicht eingelassen hätte. Und wenn doch, wie störend sie an Bord gewesen wäre.
Er hat mir zugeflüstert, wie sehr er sich heute Abend auf
mich freut, auf ein Wiedersehen mit mir. Er hat das gesagt, ich schwöre es dir! Sonst würde ich doch nicht …
Sonst würde sie doch nicht abhauen? Sich ihm anvertrauen? Sabrina wie ein kleines Kind nach Hause schicken? Immer und immer wieder hörte Sabrina Amelies atemlose Rechtfertigung. Vielleicht wäre ihre Freundin noch am Leben, wenn sie, Sabrina, sich nicht so einfach hätte abwimmeln lassen. Vielleicht – und das waren Augenblicke, in denen der heiße Schmerz in ihrem Bauch sich
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