Lilienblut
die Augen der Kommissarin und sahen jetzt gar nicht mehr freundlich, mitfühlend und zuvorkommend aus. »Der ist schon lange aufgeklärt und hat mit unserem Fall nichts zu tun.«
»Ja, ich weiß. Trotzdem würde ich gerne einmal die Akte sehen.«
Jetzt lächelte Frau Fassbinder wie der Nikolaus, den man gerade um einen zweiten Stiefel gebeten hatte. Nachsichtig, aber leider absolut machtlos. »Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil sie schon längst nach Koblenz ins Archiv gegangen ist. Ich müsste sie von dort anfordern. Versuchen Sie es am Gericht. Aber Sie müssen schon einen triftigen Grund nennen.«
»Der Mord an meiner Freundin wäre so einer.«
»Sie haben doch nicht etwa vor, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen? Davor muss ich Sie eindringlich warnen. Überlassen Sie das uns.«
»Sie finden ja noch nicht einmal Kilians Schiff.« Sabrina spürte, wie plötzlich Zorn in ihr aufstieg.
»Tja, vielleicht gab es ja gar keinen Kilian.«
Sabrina stieß einen überraschten Laut aus. »Was wollen Sie damit sagen? Dass ich gelogen habe?«
»Aber nein.« Frau Fassbinder hob beschwichtigend die Hände. »Natürlich nicht. Aber vielleicht habt ihr Mädchen da auch eine … etwas lebhafte Fantasie gehabt. Da wird aus einem Boot ein Schiff und aus einem Vagabunden schnell ein Pirat. So was kommt öfter vor, als man denkt.«
Sie lächelte nachsichtig, und genau das brachte Sabrina auf die Palme. »Lebhafte Fantasie? Und die abgeknickten Zweige? Die verwüstete Böschung? Was sagt denn Ihre Spurensicherung dazu?«
»Die sichert Spuren.«
»Dann ist doch klar, dass da ein Schiff gelegen hat.«
Frau Fassbinder nickte, langsam und so zögernd, als ob sie die folgende Information nur ungern weitergeben würde. »Das ist auch in gewisser Weise richtig. Es gibt eine Zeugenaussage, dass an diesem Tag ein Sportboot gesehen wurde. Der Zeuge ist ihm gefolgt, konnte aber den Halter nicht ausfindig machen. Und ein Sportboot ist etwas anderes als ein Lastkahn, nicht wahr? Zumindest ist es nicht halb so romantisch.«
»Wer war dieser Zeuge?«
Frau Fassbinder hob entschuldigend die Hände. »Sie werden verstehen, dass wir zu laufenden Ermittlungen nichts sagen dürfen.«
»Der Ranger? Es war der Ranger. Der Mann lügt. Die Désirée hat drei Tage vor seiner Nase im toten Fluss gelegen. Und dann soll sie auf einmal nur ein Sportboot gewesen sein?«
»Sie haben doch selbst gesagt, es war ein kleines Schiff.«
Die Kommissarin suchte etwas in ihrem Computer. Schließlich hatte sie es gefunden: Sabrinas Phantombild. »Das ist der Mann, den Sie an der Werth gesehen haben?«
Kilians schmales Gesicht. Seine Augen. Das kleine, ein bisschen spöttische Lächeln, das sich in seinen Mundwinkel gegraben hatte. Es traf Sabrina mitten ins Herz.
»Es war ein Lastschiff. Ich bleibe bei meiner Aussage«, sagte sie.
Frau Fassbinder lächelte. »Aber daran zweifelt doch keiner.«
Sabrina sah ihr an, dass sie das genaue Gegenteil dachte.
Draußen auf der Straße überlegte sie, welche Richtung sie einschlagen sollte. Der Weinberg wartete. Die Schulaufgaben. Doch statt in den Bus nach Leutesdorf stieg sie in den nach Andernach. Dreißig Minuten später stand sie am Fähranleger, wo das große Ausflugsschiff auf die Besucher des Geysirs wartete.
Zwei Dutzend Touristen, wetterfest gekleidet, standen bereits am Kai. Das Deck war leer, im Gastraum darunter räumte ein Angestellter gerade das Geschirr ihrer Vorgänger ab. Eine frische Brise wehte über den Fluss und ließ Sabrina frösteln. Es war ein unfreundlicher, früher Herbsttag und der Ausflug würde mit Hin- und Rückfahrt gute zwei Stunden dauern. Am anderen Ufer konnte sie die Arbeiter in den Weinbergen erkennen. Sie hoffte inständig, dass der Ranger noch vor dem Ablegen auftauchen würde. Aber als der Steg freigegeben wurde und die Besucher auf das Schiff gingen, musste sie ihnen wohl oder übel folgen. Er war wohl schon auf der Werth, und wenn sie ihn sprechen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als mitzufahren.
Der Käptn – ein Schwager von Salinger – kannte sie und nickte sie auch ohne Ticket durch. Sie suchte sich einen Platz unter Deck. Einige Zuspätgekommene wurden noch an Bord gelassen, dann legte das Schiff ab, machte einen schwungvollen Bogen in die Mitte des Rheins und fuhr mit Blick auf die Skyline von Andernach hinüber zur Werth. Die Krippen lagen verwaist und verlassen da, Laub und Treibholz hatten sich am Strand gesammelt. Als sie die
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