Lilienblut
jemals Zeit für etwas anderes als den Weinberg gehabt? In solchen Momenten war Sabrina froh, noch zwei Jahre Aufschub gewonnen zu haben. Dobersteins Jüngster jedenfalls war im Moment kein Thema mehr. Sie richtete sich auf und drückte den Rücken durch. Dann ging sie ein paar Schritte nach rechts und betrachtete den verwilderten Hang.
Meiner, dachte sie. Wie hört sich das eigentlich an? Mein Weinberg. Eigentlich nicht schlecht. Sie legte die Schere in den Korb zu den Trauben und lief den Terrassenweg weiter, bis sie an die Grenze der beiden Hänge kam. Mehr Steillage ging wohl nicht. Man musste definitiv schwindelfrei sein, um da oben zu arbeiten. Aber der Berg bekam dadurch auch am meisten Sonne ab. Das Schiefergestein speicherte die Wärme und ließ die Trauben süßer werden. Nicht sehr ertragreich,
dafür aber von hoher bis höchster Qualität, vermutete sie. Sie stieg über den Drahtzaun. Über die Hälfte der Stöcke müsste neu gepflanzt werden. Riesling. Vielleicht zwei Reihen Kerner oder Weißburgunder dazu. Bei unter 60 Hektoliter pro Hektar fast schon eine Garantie für Spitzenqualität. Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht. Natürlich rein theoretisch betrachtet.
»Vorsicht!« Franziskas Stimme gellte zu ihr hinüber. »Sabrina! Pass auf!«
Erschrocken fuhr sie zusammen. Von oben lösten sich Steine, kollerten und prasselten herunter und flogen wie Geschosse an ihr vorbei. Sabrina ließ sich fallen und hob die Arme über den Kopf, um sich zu schützen.
»Sabrina!«
Ein Brocken, groß wie ein Fußball, raste in atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zu. Sie warf sich zur Seite, der Stein verfehlte sie nur um Haaresbreite. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung, doch sie krümmte sich instinktiv zusammen, um nicht doch noch getroffen zu werden. Der ganze Spuk dauerte keine fünf Sekunden, dann war er vorbei, und ihre Mutter war bei ihr.
»Mein Gott! Ist dir was passiert?« Franziska beugte sich über sie. »Nur eine Schramme. Gott sei dank. Das haben wir gleich. Ich dachte schon, der ganze Berg kommt runter. Also ist doch was Wahres dran.« Sie drückte ein zerknittertes Papiertaschentuch auf Sabrinas Stirn. »Du musst zum Arzt. Vielleicht muss das genäht werden.«
Vorsichtig tastete Sabrina die Stelle ab. Ein wenig Blut blieb an ihren Fingerspitzen kleben. »Nur ein Kratzer. Alles halb so wild.« Sie stand auf und klopfte sich den Dreck aus den Kleidern. Dann sah sie noch einmal hoch zur Spitze des Berges, die jetzt wieder friedlich und unschuldig aussah. »Woran ist was Wahres?«
Franziska folgte ihrem Blick. »Es wird gemunkelt, dass sie damals, als der Hang terrassiert wurde, gepfuscht haben. Wenn das stimmt …«
»Dann kommt der Berg irgendwann ins Tal. Man hat dich übers Ohr gehauen.«
»Es sind nur Gerüchte. Gestern Abend habe ich mich mit Kreutzfelder unterhalten. Der sagt, dass der Berg sicher ist.«
»So. Sagt er.«
Etwas an Sabrinas Ton brachte Franziska dazu, sich langsam zu ihrer Tochter umzudrehen und sie ins Visier zu nehmen. »Was weißt du darüber?«
»Ich? Genauso viel wie du. In Andernach heißt es, dass eventuell die Bahntrasse verlegt wird und dafür Gutachten gemacht werden. Aber auch das ist reines Hörensagen. Lukas hat mir gestern davon erzählt.«
»Die Bahntrasse.« Sie sah hinunter ins Tal, wo wie auf Bestellung ein ICE durch Leutesdorf brauste und selbst bis hier oben noch mehr als deutlich zu hören war. »Das wird ja immer besser. Entweder fällt uns der Berg auf den Kopf oder wir werden enteignet. Scheiße!«
Es kam wirklich selten vor, dass Franziska außer sich geriet. Sabrina hatte sie so gut wie nie fluchen gehört. In diesem Moment aber schien ihrer Mutter alles egal zu sein. Sie war wütend. Richtig wütend. Sie holte mit ihrem rechten Bein aus und gab einem kleinen Stein vor ihr einen kräftigen Tritt. Er flog fast fünf Meter weit.
»Das ist dein Berg! Dein Erbe! Egal, ob du es annimmst oder nicht. So geht man nicht um mit den Dobersteins. So nicht!«
Sabrina beobachtete ihre Mutter mit gemischten Gefühlen. Eigentlich war das ja ein Wink des Schicksals. Dobersteins Jüngster würde wahrscheinlich nicht mal mehr den nächsten Frühling erleben. Das Problem war gelöst, ohne dass Sabrina auch nur einen Finger dafür hatte rühren müssen. Aber seltsam: Die richtigen Glücksgefühle wollten sich nicht einstellen. Eben noch hatte sie darüber nachgedacht, was sie hier anpflanzen könnte – rein theoretisch! Und im nächsten Moment sah
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