Lilienblut
nur am Wochenende angeboten. Noch weiter: die Uferpromenade, das Rheintor, den Wehrturm und den Alten Krahnen. Mit klopfendem Herzen schwenkte sie noch mehr nach rechts. Da lag sie, die Werth, still und dunkel. Ein Waldstück, eingeklemmt zwischen Ufer und Berg, durchschnitten von einer Schnellstraße auf hohen Stelzen. Zweimal Tatort, zweimal so viele ungelöste Fragen. Beim ersten Fall hatte ein Indizienprozess zur Verurteilung des Mörders geführt, und ein Junge von elf Jahren hatte alles gesehen und nie ein Wort darüber gesprochen. Was wohl aus ihm geworden war? Und ob er wirklich so unschuldig gewesen war, wie alle glaubten?
Beim zweiten Mal gab es keinen Mörder. Nur einen Verdächtigen,
der sich in Luft aufgelöst hatte; einen Ranger, der Dienstpläne manipulierte; einen Richter, der sich zu spät erinnerte; und einen kichernden schwarzen Geist, der verirrte Spaziergänger zu Tode erschreckte. Auch wenn alle sagten, diese beiden Verbrechen hätten nichts miteinander zu tun, so lagen sie doch vor Sabrina wie Teile eines Puzzles, dem aber noch zu viele entscheidende Stücke fehlten, als dass man es hätte zusammenfügen können.
Ein Blitzen. Im Bruchteil einer Sekunde wieder vorbei. Atemlos starrte Sabrina durchs Fernrohr. Da! Schon wieder! Das Licht geisterte wie ein winziges Glühwürmchen durch die Dunkelheit. Jemand war drüben auf der Werth. Um diese Uhrzeit? Sabrina blinzelte, aber es war nichts mehr zu sehen. Fast glaubte sie, sie hätte sich geirrt. Da sah sie es ein drittes Mal. Irrlichternd und schwankend, nur für wenige Augenblicke leuchtete es auf, so als ob sein Träger sich nur vergewissern wollte, dass er auf dem richtigen Weg war.
Jemand war am toten Fluss . Zu einer Zeit, zu der sich niemand dort herumtreiben durfte. Es war zu kalt für Liebespärchen und zu ungemütlich für die Jugendlichen, die sich sonst am Alten Krahnen trafen und den Richter zur Weißglut brachten. Aber es war genau der richtige Moment, um ungestört an einem Ort herumzulaufen, an dem zwei Morde geschehen waren.
Schnell packte Sabrina ihre Sachen zusammen und machte sich an den Abstieg. Es war gerade noch hell genug, um den Weg zu erkennen, und als sie die erste Straßenlaterne von Leutesdorf erreicht hatte, merkte sie, dass sie so schnell gelaufen war, dass sie keuchte. Andres und Kjell waren fort. Das Haus war dunkel. Und auf der Bank vor der Tür saß ein Mann.
SECHZEHN
»Guten Abend«, sagte Sabrina.
Der Mann stand auf und nahm eine Reisetasche, die er zu seinen Füßen abgestellt hatte. »Du bist Franziskas Tochter. Habe ich recht?« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Michael Gerber.«
Überrascht erwiderte sie seinen Händedruck. Michael Gerber war einen halben Kopf größer als sie, hatte dunkle, verstrubbelte Haare und trug eine randlose Brille. Sie verlieh seinem beinahe jungenhaften Gesicht etwas Ernsthaftes. Sabrina schätzte ihn auf Mitte, Ende Dreißig. Also mindestens fünf Jahre jünger als ihre Mutter.
Er ließ sie los. »Wahrscheinlich hat Franziska vergessen, dass ich heute kommen wollte.«
»Sie … wollen hierbleiben?« Sabrina merkte selbst, dass das so überrascht klang, dass es schon beinahe einer Ausladung gleichkam.
»Also hat sie auch vergessen, dir Bescheid zu sagen. Ich darf dich doch noch duzen? Sechzehn ist dafür, glaube ich, die alleroberste Grenze.« Jetzt lächelte er. »Sag einfach Michael zu mir, wenn es dir nichts ausmacht.«
Erstaunt registrierte Sabrina, dass ihre Empörung sich in Grenzen hielt. Er wirkte nett und unkompliziert. Hauptsache, die beiden würden sich mit ihrer Knutscherei ein bisschen beherrschen. Sie holte die Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete die Tür. »Kommen Sie rein.«
In der Küche setzte sie als Erstes Wasser für eine große Kanne Tee auf. Während sie darauf wartete, dass heiß wurde, sah Michael sich um. Er tat das mit genau der richtigen Mischung aus Interesse und Zurückhaltung, ohne neugierig zu wirken. Offenbar war er damals wirklich nicht weiter als bis
zu Franziskas Schlafzimmer gekommen. Als er im Wohnzimmer vor den Medaillen stehen blieb, erinnerte sie das an den Besuch der Polizistinnen und dass er an diesem Tag eigentlich hatte kommen wollen. Franziska hatte seinen Namen nie mehr erwähnt. Sabrina hatte wie selbstverständlich angenommen, dass er gar nicht mehr existierte.
»Deine Mutter hat mir erzählt, was passiert ist.« Er kam wieder in die Küche zurück und setzte sich auf die Eckbank.
»So. Hat sie
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