Lilith Parker: Insel Der Schatten
schon in Ordnung. Das Zimmer wirkt … freundlich!«
Es war wohl das erste Mal an diesem Tag, dass in Lilith ein wärmendes Gefühl aufkam, und es gab ihr wieder etwas von ihrer Hoffnung zurück, die sie während ihrer Reise fast verloren glaubte.
Mildred betrachtete die zahlreichen Bücher im Wandregal, das sich von der schweren Last in der Mitte durchbog. »Es war früher das Zimmer deines Vaters.« Wieder lag Bitterkeit in ihrem Ton, als sie von ihrem Bruder sprach. »Er hat dir wohl nicht viel von seiner Familie und seinem Leben hier erzählt, oder?«
Lilith schüttelte den Kopf.
»Unsere Familie lebt schon seit vielen Generationen in Bonesdale. Unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind mit dieser Insel untrennbar verbunden. Nicht zuletzt, weil wir das Meer so sehr lieben.«
Überrascht sah Lilith ihre Tante an. Das war das genaue Gegenteil von dem, was ihr Vater immer behauptete. Laut ihm war das Meer ein Element, vor dem man sich in Acht nehmen musste. Jedes Mal wenn in den Medien von ertrunkenen Kindern berichtet wurde, machte er Lilith darauf aufmerksam. Wahrscheinlich war dies auch der Grund, warum Lilith sich vor dem Meer zu fürchten begonnen hatte.
»Von deiner Mutter Cathy hat er dir ebenfalls nichts erzählt?«, hakte Mildred nach.
»Nicht sehr viel. Ich weiß so gut wie nichts über sie.«
Lilith runzelte die Stirn. Warum fragte Mildred nach ihrer Mutter? Hatte sie sie etwa gut gekannt?
Doch ehe Lilith ihre Tante danach fragen konnte, fuhr diese fort: »Nun, da ich auch nichts über dich weiß, müssen wir uns wohl erst einmal miteinander vertraut machen.«
Die Art, wie Mildred dies sagte, ließ in Lilith ein ungutes Gefühl aufsteigen. Es klang so, als ob sie ihre Nichte einer Prüfung unterziehen wollte. Und wahrscheinlich würde diese negativ ausfallen, wenn Lilith in Tante Mildreds Augen zu sehr Joseph Parker glich.
»Ich habe dir etwas zu essen hingestellt, falls du noch einen kleinen Imbiss möchtest.« Mildred deutete auf den Tisch, auf dem ein Sandwich und ein großes Glas Milch bereitstanden.
Lilith nahm auf dem Stuhl Platz und griff dankbar zu.
»Es gibt einige Dinge, die du hier auf St. Nephelius beachten solltest«, begann Mildred mit ernstem Gesicht.
»Nicht ins Kindermoor zu gehen, da das kein Spielplatz ist?«, fragte Lilith kauend.
»Genau, aber das ist noch nicht alles. Zum Beispiel solltest du nach Einbruch der Dunkelheit im Haus bleiben. Wir haben hier öfter Probleme mit der Stromversorgung, sodass die Straßenbeleuchtungen zeitweise ausfallen oder komplette Teile des Dorfs im Dunkeln liegen. Solange du dich noch nicht auskennst, möchte ich dich bei Einbruch der Dunkelheit hier im Haus wissen.«
Lilith nickte, das leuchtete ihr ein. Abgesehen davon schien es in Bonesdale nichts zu geben, was sie abends nach draußen locken konnte. Kinobesuche oder ein Bummel durchs Einkaufszentrum kamen in diesem kleinen Ort sicherlich nicht infrage.
»Gut, dann hätten wir das ja geklärt.« Ihre Tante seufzte erleichtert. Anscheinend hatte sie mit mehr Widerstand gerechnet. »Nur eines noch: Bleib dem Schattenwald fern.«
»Und warum?«
»Dieser Wald trägt nicht umsonst diesen Namen. Man kann sich darin leicht verirren.« Mildred lief zum Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. »Schon nach einigen Schritten wird das Blätterdach so dicht, dass das Tageslicht es kaum durchdringen kann. Es herrscht ein beklemmendes Zwielicht, voller dunkler, umherhuschender Schatten. In diesen Schatten leben jede Menge lichtscheuer Tiere, die nur darauf warten, dass ein paar unvorsichtige Kinder in diesen Wald hineinstolpern.« Mildred schlang ihre Arme um sich, als ob es sie fröstelte. »Man erzählt sich, dass vor vielen Jahren ein Bruder und seine Schwester verbotenerweise in den Wald gegangen sind. Es sollte eine Art Mutprobe zwischen den beiden sein, wer von ihnen sich am weitesten hineintraut. Doch die Schwester ist im Halbdunkel des Waldes in ein Erdloch gestürzt, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte.«
»Hat ihr Bruder ihr denn nicht geholfen?«
»Der ist davongerannt. Er hat nicht einmal Hilfe geholt, weil er Angst hatte, Ärger zu bekommen. Seinen Eltern hat er erzählt, er wüsste nicht, wo seine Schwester steckt.«
»Er hat seine Schwester in dem Erdloch gelassen? Was für eine linke Bazille!«, entfuhr es Lilith.
»Ja, das war er wohl. Das Mädchen musste eine lange und grausige Nacht im Schattenwald verbringen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so
Weitere Kostenlose Bücher