Lilith Parker: Insel Der Schatten
sauberen Druckbuchstaben »Jo, Lou und ich, 1978«.
Lou? Lilith hatte den Namen noch nie von ihrem Vater gehört. Sie drehte das Bild wieder um und betrachtete die drei Kinder. Wer war nur dieses kleine Mädchen?
Fünf tiefe Schläge wummerten bis zu ihr in den Speicher nach oben. Lilith schrak hoch. Die Standuhr in Mildreds Arbeitszimmer hatte fünf Uhr geschlagen – sie kam zu spät zu ihrer Verabredung mit Matt und Emma! Und Lilith hatte sich noch nicht einmal umgezogen. Sie sprang auf, schlug den Deckel der Truhe zu und steckte das Bild kurzerhand in die Jackentasche ihrer Schuluniform. Mit wehenden Haaren sauste sie die Treppe hinunter in Richtung ihres Zimmers und prallte im Flur unsanft mit Matt zusammen.
»Was machst du denn hier?«, fragte sie völlig perplex.
Matt grinste sie frech an. »Freudig überrascht, mich zu sehen?«
Lilith verdrehte die Augen und zog eine Grimasse. »Überrascht – ja. Freudig – nein.«
Matt seufzte gespielt bekümmert. »Ach, Lilith, du wirst es nie zu etwas bringen, wenn du weiterhin so einen unsympathischen Wahrheitsfimmel an den Tag legst!«
Geschickt wich er Liliths spielerischem Faustschlag aus.
»Deine Tante war bei uns und hat mich zu euch mitgenommen«, erklärte er ihr endlich seine Anwesenheit. »Bist du fertig?«
»Ich zieh mich noch schnell um, dann können wir los, okay?«
Matt nickte. »Ich warte unten in der Küche!«
Lilith flitzte in ihr Zimmer, tauschte die Schuluniform gegen Jeans und Pullover aus und blieb unschlüssig stehen. Es dauerte einen Moment, bis ihr klar wurde, was sie noch zurückhielt.
Die Krähe … Was, wenn die Krähe da draußen auf sie wartete? Sollte sie sich nicht irgendwie bewaffnen?
Lilith sah sich in ihrem Zimmer um, entdeckte jedoch nichts, was man als Waffe umfunktionieren konnte. Wie sinnvoll wäre es schon, ein Buch nach der Krähe zu werfen? Natürlich könnte sie sich auch von Kopf bis Fuß in ihre Tagesdecke einwickeln. Lilith schüttelte den Kopf. Das würde ihr alles nichts helfen!
Schließlich zog sie ihre Nachttischschublade auf und nahm das Amulett ihrer Mutter heraus, das sie am Abend zuvor abgelegt hatte. Wieder durchströmte sie ein Gefühl der Sicherheit, als sie das Schmuckstück überstreifte – auch wenn es, wie sie sich seufzend eingestehen musste, bei einem Angriff der Krähe wohl wenig nützlich sein würde. Doch aus irgendeinem Grund ahnte Lilith auch, dass die Krähe sie nur angreifen würde, wenn sie alleine unterwegs war.
Mehrere Stufen auf einmal nehmend sauste sie die Treppe hinunter und beschloss insgeheim, das Amulett in Zukunft nicht einmal mehr zum Schlafen abzulegen.
Als Matt und Lilith einige Minuten später völlig außer Atem vor dem »Eiscafé Leichenstarre« eintrafen, waren sie über eine Viertelstunde zu spät. Von Emma war nichts mehr zu sehen. Schon dachten sie, das Mädchen sei wieder heimgegangen, als Lilith sie durch ein Fenster im Eissalon an einem Tisch entdeckte. Emma winkte Lilith erfreut zu und bedeutete ihr hereinzukommen. Doch Lilith entging nicht, dass Emmas Lächeln bei Matts Anblick eine Spur schwächer wurde.
»Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass Matt mitgekommen ist?«, fragte Lilith, als sie sich zu Emma setzten. »Er ist ja genau wie ich neu in Bonesdale und so kannst du uns beide herumführen!«
»Klar«, gab Emma schulterzuckend zurück.
Auch Matt schien Emmas kühle Reaktion aufgefallen zu sein. »Du musst uns unbedingt in die Bonesdaler Halloweengeheimnisse einweihen«, bat er sie mit einem gewinnenden Lächeln. »Nachdem ich nun schon einmal hier festsitze, bin ich wild entschlossen, ein Einheimischer zu werden. Wenn es hilft, werde ich mir auch ein weißes Nachthemd überziehen und mich neben der weißen Frau an einer Seilkonstruktion die Devilstreet rauf- und runterziehen lassen.«
Emma konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich glaube nicht, dass du ein brauchbares Gespenst abgeben würdest. Aber mit ein paar abgetrennten Extremitäten könntest du es vielleicht als Zombie versuchen.«
Matt sah bedauernd an sich herunter. »Dabei hänge ich so an meinen Armen!« Er seufzte. »Aber wenn es denn sein muss …«
»Und was für eine Rolle übernehme ich dann?«, schaltete sich Lilith ein. »Die einer bösen Hexe?«
»Tut mir leid, aber die beste böse Hexe, die wir haben, ist meine Mutter«, lachte Emma. »Mit ihr kannst du es nicht aufnehmen.«
Lilith warf einen verstohlenen Blick auf Emmas Nase. Die war ihr schon in dem Moment, als
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