Lilith Parker: Insel Der Schatten
sie Emma kennengelernt hatte, seltsam bekannt vorgekommen. Sicherlich, Emmas Nase war um ein Vielfaches kleiner, aber ihre Form war Lilith allzu vertraut. »Deine Mutter heißt nicht zufällig Cynthia?«
Überrascht sah Emma auf. »Du kennst sie?«
Matt und Lilith tauschten einen kurzen Blick. »Nur flüchtig«, gab Matt zurück. »Sie hat uns gestern schon in allerbester Hexenmanier begrüßt.«
»Das glaube ich gerne!«, bedauerte sie Emma. »Mom liebt ihren Job als Hexe. Wenn sie mir und meinem Bruder in ihrem Kostüm eine Standpauke hält, befürchten wir manchmal, dass sie uns am Ende in weiße Mäuse verwandelt oder in den heißen Ofen steckt.«
»Und dein Vater – arbeitet der auch hier in Bonesdale?«, frage Lilith.
Emma nickte. »Er ist der Besitzer des Restaurants ›Frankenstein‹.«
Während sie sich weiter unterhielten und Emma die beiden mit Informationen über ihren neuen Heimatort versorgte, bestellten sie sich die Spezialität des Hauses: einen Eisbecher »Totenkopf« – ein aufgeschnittener Totenschädel, der mit Hirnmasse und Blut gefüllt war. Zu ihrer Erleichterung fand Lilith schnell heraus, dass der Kopf aus Plastik war, das Blut nur Erdbeersoße und die Hirnmasse leckeres Eis.
Als sie das »Leichenstarre« schließlich verließen, war es bereits früher Abend und die Touristen, die sich die Portalgräber und den historischen Friedhof angesehen hatten, waren ins Dorf zurückgekehrt. Das große Halloweenspektakel hatte begonnen und der ganze Ort schien auf den Beinen zu sein. Auf der Devilstreet herrschte eine Stimmung wie auf dem Jahrmarkt. Bucklige Hexen liefen durch die Menge und prophezeiten jedem, der dafür etwas Geld erübrigen wollte, eine düstere Zukunft. Kaufleute mit strähnigen Haaren und schwarzen Zähnen boten in transportablen Holzbuden ihre Waren feil. Hexenbrillen, Zauberermonokel und Werwolfkontaktlinsen wurden genauso angeboten wie Vampirzähne, Spinnennetze, Warzen und 1-a-Auswüchse und Geschwüre. Jeder, der an den Händlern vorbeilief, ohne etwas zu kaufen, wurde von ihnen übel beschimpft und verflucht. Doch kaum einer der Touristen reagierte beleidigt, oft genug lachten sie amüsiert auf und blieben dann doch stehen, um etwas zu kaufen. Am Dorfpranger verkündete ein Mann mit weißer Perücke und dunklem Umhang der Menge, dass er nun ein offizielles und viel zu mildes Urteil vollstrecken werde, nämlich den neben ihm stehenden jungen Mann wegen Vielweiberei seiner gerechten Strafe zuzuführen. Unter dem Gejohle der Leute wurde der Verurteilte, der sich mit aller Kraft wehrte und schrie, zum Pranger geführt. Dieser bestand aus zwei Brettern, die an stabilen Pfosten befestigt waren. In den Brettern war ein kreisförmiges Loch, wohinein nun der Hals des Verurteilten gesteckt wurde, während seine Handgelenke links und rechts davon ihren Platz fanden. Lilith wusste von ihrem Vater, dass im Mittelalter die Verurteilten bei dieser Strafe von den Passanten beschimpft und mit fauligem Obst, Gegenständen oder sogar Steinen beworfen worden waren. Hier jedoch hatte man eine andere Lösung gefunden: Plötzlich tauchte eine Schar mittelalterlich gewandeter Mädchen auf, die unter dem Gelächter der Touristen dem jungen Mann Handküsse und Blumen zuwarfen.
»Wart ihr eigentlich schon im ›Trick or Treat‹?«, fragte Emma.
Da Matt und Lilith verneinten, bahnten sie sich einen Weg durch die Menge. Als Lilith in den überfüllten Laden trat, verschlug es ihr den Atem. Noch nie hatte sie eine so große Menge an Halloweennaschereien gesehen. Es gab Schrumpfköpfe und Fledermäuse aus Schokolade, Madenbonbons, Zombiefinger aus Fruchtgummi, schwarze Spinnenchips und ein menschengroßes Skelett aus Karamellstangen. Man wusste gar nicht, wohin man zuerst laufen sollte. Auch an die Halloweenstreiche hatte man gedacht und so scharte sich eine Horde kleiner Jungen begeistert um einen Tisch mit Stinkbomben, Käsezahnpasta, Seifenbonbons und Furzkissen. Schließlich verließ Lilith den Laden mit einer Packung Blutkaugummi, mit dem sich die Spucke blutrot verfärbte, Emma hatte sich mit Augäpfeldrops eingedeckt, während sich Matt eine Tüte saurer Krötenzungen gekauft hatte.
Sie ließen sich weiter durch das bunte Halloweenspektakel treiben und die Zeit verging wie im Flug. Wohin man blickte, sah man etwas Interessantes, das es näher anzuschauen galt. Einmal entdeckte Lilith sogar Arthur, der mit freundlichem Lächeln auf eine Gruppe junger Mädchen zusteuerte und einem
Weitere Kostenlose Bücher