Lilith Parker: Insel Der Schatten
gibt.« Emma schüttelte entschlossen den Kopf. »Aber das ist absolut unmöglich!«
Sie kreischte auf. Ein weiterer riesenhafter Schatten trat aus dem Wald. Dieses Mal direkt neben ihnen. Emma drängte sich an Lilith.
»Wir sind verloren!«
Lilith blinzelte. »Nein, sind wir nicht!«
Sie ging auf den schwarzen Schatten zu. Ein Paar dunkle Augen blickte sie treuherzig an.
»Was bin ich froh, dich zu sehen, Hannibal!«
Lilith strich ihm über den Kopf.
Hannibal leckte ihr kurz über die Hand, dann fixierte er die Wölfe mit stechendem Blick. Seine Nackenhaare sträubten sich. Er stellte sich breitbeinig vor die Mädchen, duckte den Kopf und fletschte die Zähne in Richtung der beiden Werwölfe. Das kehlige Knurren, das er ausstieß, klang wie das Rasseln von Waffen.
Die Werwölfe zögerten. Anscheinend hatten sie nicht mit einem ernst zu nehmenden Gegner gerechnet. In Lilith keimte die Hoffnung auf, dass sie sich allein durch Hannibals Statur und seine beeindruckenden Drohgebärden verjagen ließen. Doch schon einen Moment später schlichen sie wieder auf die kleine Gruppe zu.
In wenigen Sekunden würde der Kampf beginnen.
Je näher die Werwölfe kamen, umso intensiver wurde der Gestank nach Kot, Urin, Schweiß und Fäulnis. Liliths Abscheu vor diesen Biestern mischte sich mit Übelkeit. Diese Tiere waren wie ein Fehler der Natur, etwas, das es nicht geben sollte.
Liliths Knie zitterten, während Hannibal stolz und in voller Größe quer auf dem Waldweg stand, um beide Werwölfe gleichzeitig im Blick zu haben.
Zu Liliths Füßen raschelten Blätter. Erstaunt sah sie nach unten und bemerkte erst jetzt, dass Hannibal die hinter ihm stehenden Mädchen unmerklich nach hinten gedrängt hatte, vom Weg herunter. Was hatte er nur vor?
Emmas Finger krallten sich in Liliths Arm. »Er will, dass wir in den Wald flüchten, wenn es losgeht.«
Lilith schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich lass ihn nicht mit diesen Biestern allein!«
»Du kannst ihm doch überhaupt nicht helfen!«, versuchte Emma sie zur Vernunft zu bringen. »Willst du ihm etwa mit deinen scharfen Zähnen oder Krallen zur Seite stehen?«
So schwer es Lilith auch fiel, sie musste sich eingestehen, dass Emma recht hatte. Emma und sie konnten gegen diese Werwölfe nichts ausrichten. Wegzulaufen war ihre einzige Chance.
Der Werwolf zu ihrer Rechten erreichte sie als Erster. Hüpfend wie ein Affe legte er die letzten Meter zurück und blieb sabbernd vor Hannibal stehen. Sein missgestalteter Artgenosse gesellte sich betont entspannt zu ihm.
Geduckt standen sie um Hannibal herum. Die Werwölfe und der Hund starrten sich an, fochten einen stummen Krieg mit den Augen aus. Die Spannung, die in der Luft lag, war fast greifbar. Die Mädchen hielten den Atem an.
Ohne Vorwarnung, ohne dass Lilith darauf vorbereitet gewesen wäre, ging es los. Einer der Werwölfe sprang Hannibal mit ausgestreckten Klauen und gefletschten Zähnen an. Doch Hannibal hatte damit gerechnet. Er wich in einer schnellen Bewegung aus und schnappte nach der Flanke des Werwolfs. Nach dem wütenden Aufjaulen zu urteilen, hatte er ihn erwischt. Sein Artgenosse jedoch nutzte den kurzen Moment, in dem Hannibal abgelenkt war, und griff ihn von der Seite an. Lilith wandte gequält den Kopf ab. Sie konnte es nicht mitansehen. Es war ein ungleicher Kampf.
Emma zog an Liliths Arm. »Worauf wartest du denn?«
»Aber Hannibal …«
Lilith konnte in dem Gewühl der schwarzen Schatten kaum noch etwas ausmachen. Das Geräusch von kehligem Knurren und zuschnappenden Kiefern klang so schrecklich, dass sie sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
»Begreifst du denn nicht, dass er uns retten will?«, sagte Emma eindringlich. »Wir müssen los! Sonst kämpft er völlig umsonst. Willst du das?«
Emma zerrte sie in den Wald, wie betäubt folgte ihr Lilith. Sie warf einen letzten Blick zurück. Gerade sah sie, wie der Werwolf mit der blutenden Flanke Hannibal von hinten ansprang und ihm die gefletschten Zähne in den Rücken hieb. Das darauffolgende Aufheulen zerriss ihr das Herz.
»Lilith!«, ermahnte Emma sie.
Mit Tränen in den Augen rannte Lilith los.
Eine Wolke, die sich vor den Vollmond geschoben hatte, zog weiter und das fahle Mondlicht ließ die beiden Mädchen gerade so viel erkennen, dass sie Bäumen und Ästen ausweichen konnten. Aus dem Waldboden herausragende Wurzeln ließen sie jedoch immer wieder straucheln und Blätterberge, die die Unebenheiten des Bodens bedeckten, wurden
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