Lilly Höschen (01): Walpurgismord
August 2010
Seit Menschengedenken gilt der Brocken, die mit 1142 Metern höchste Erhebung in der Nordhälfte Deutschlands, als magischer Berg. Hier sollen sich, dem Volksglauben nach, an Walpurgis die Hexen mit dem Teufel ein Stelldichein geben. Aber auch ohne Hexen und sonstigem Sagengut übt der Berg eine faszinierende Anziehungskraft aus. Goethe, Heine, Eichendorff, Fontane, Novalis und andere große Dichter und Denker haben den Brocken erwandert. Während der deutschen Teilung hatten sich sowjetische Soldaten des Berges bemächtigt, um aufgrund der günstigen Lage ihre Spionageabhörgeräte zu installieren. Für normale Bürger war der Berg in diesen vierzig Jahren nicht zugänglich. Nach der Grenzöffnung setzte dann ein gewaltiger Menschenstrom ein. Alles, was Beine hatte, zog es auf den Gipfel. Wer mit dem Laufen Schwierigkeiten hatte, benutzte die Brockenbahn, ein altes dampfbetriebenes Vehikel. Seit 1899 gibt es diese Schmalspurbahn. Zwanzig Jahre nach dem Wegfall der Grenze ist der Ansturm wieder auf ein normales, immerhin recht hohes Niveau zurückgegangen. Auf dem Hochplateau des Berges herrscht ein Klima, das dem isländischen vergleichbar ist. Die Vegetation ist spärlich. Man findet Moose, Blumen und andere Pflanzen, die nirgendwo sonst in Deutschland gedeihen. Alte Tannen sehen aus, als seien sie erst vor zehn Jahren gepflanzt worden. Wenn im Flachland der Wind weht, gibt es hier oben Orkane. Im Winter können die Schneeverwehungen gewaltig sein.
An schönen Sommertagen ist auf den Wegen zum Brocken Hochbetrieb. Nicht so an diesem 21. August. Es regnete, und der Gipfel war von Wolken eingehüllt. Die beiden jungen Frauen, Marie und ihre Freundin Anna, hatten sich dennoch nicht davon abschrecken lassen. Anna wollte schon immer mal auf den Brocken wandern. Und nun wurde die Sache durchgezogen. Sie begegneten nur wenigen Unverdrossenen auf ihrem Weg. Auf dem Gipfelplateau stärkten sie sich im Brockenrestaurant, bevor sie sich auf den Weg machten zum Torfhaus, wo ihr Wagen stand. Das war jetzt noch mal ein Fußmarsch von acht Kilometern. Sie waren stolz, dass sie durchgehalten und nicht etwa kehrtgemacht hatten. Dieses Stück würde man jetzt auch noch schaffen. Danach ab nach Hause und in die Badewanne, um die feuchte Kälte aus dem Körper zu kriegen.
Sie hatten mittlerweile den steilen Abstieg hinter sich und befanden sich im Hochwald, ein paar hundert Höhenmeter unterhalb des Gipfels. Da sagte Anna, dass sie mal in die Büsche müsse.
»Geh nicht so weit, damit du mir nicht verloren gehst«, meinte Marie.
Nach ein paar Minuten trat Anna wieder auf den Weg, wo sie Marie zurückgelassen hatte. Aber da war keine Marie. Sie schaute in alle Richtungen und dachte, dass sie wahrscheinlich auch mal kurz in die Büsche gegangen sei. Nach fünf Minuten fing sie an zu rufen. Es kam keine Antwort. Es herrschte eine Sicht von höchstens fünfzig Metern. Der Nebel hüllte alles ein. Nach zehn Minuten fing Anna an, sich Sorgen zu machen. Sie brüllte aus Leibeskräften. Zuerst ging sie hundert Meter zurück, dann zweihundert Meter in die andere Richtung. Keine Marie, kein Mensch, nichts. Dann holte sie ihr Handy raus und betätigte Maries Kurzwahl. Mailbox. Jetzt bekam sie es mit der Angst zu tun und marschierte schnurstracks auf dem Goetheweg Richtung Torfhaus, ständig um sich blickend, ob Marie nicht doch noch auftauchte. Mit letzter Kraft erreichte sie den Parkplatz. Keine Marie. Sie ging in das Restaurant neben dem Parkplatz. Auch hier keine Spur. Dann rief sie Amadeus an. Amadeus rief Hans Gutbrodt an. Dieser riet, gleich den Kommissar zu verständigen.
»Aber Hans, du glaubst doch nicht im Ernst, dass es hier einen Zusammenhang gibt? Ein Verbrechen? Eine Entführung?«
»Es muss ja nichts bedeuten, aber wenn nun doch ... Also, ich würde sagen, bleib erst mal ganz ruhig, ruf den Kommissar an und komme dann zum Torfhaus. Ich mache mich auch gleich auf den Weg. Und wir gehen dann noch mal die Strecke ab, die die beiden Mädchen gelaufen sind. Es ist ja noch ein paar Stunden hell. Vielleicht hat sich bis dahin auch alles geklärt und Marie sitzt im Restaurant und trinkt einen Kaffee.«
Etwa eine Stunde später waren Amadeus und Hans am Torfhaus. Kommissar Schneider redete mit der völlig aufgelösten Anna. Mehrere Polizisten in Uniform, einer davon mit einem Schäferhund, standen im Kreis und unterhielten sich.
»Haben Sie mir etwas mitgebracht?« fragte Herr Schneider Amadeus, der in einer
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