Lilly Höschen (01): Walpurgismord
erwähnt.«
»Ich lese die Schlagzeilen aus Politik und Wirtschaft. Wirklich intensiv studiere ich die Times. Und alles, was ich sonst an Informationen brauche, hole ich mir aus dem Internet. Ich wusste nicht, dass Hans Gutbrodt hier in der Gegend wohnt.«
»Lassen wir das erstmal so stehen. Nächste Frage: Kennen Sie den Fußball mit den Autogrammen, den Georg Besserdich in seiner Kindheit zum Geburtstag bekommen hat?«
»Ja.«
»War dieser Fußball mal in Ihrem Besitz?«
»Ja.«
»Wie ist er in Ihren Besitz gekommen?«
»Ich habe ihn gestohlen.«
Gisela hätte platzen können. Sie hätte sich jetzt zu gern eingeschaltet, wagte es aber nicht.
»Und wie lange war dieser Fußball in Ihrem Besitz?«
Wiebe atmete tief aus, trank einen Schluck Wasser, senkte den Kopf nach unten und blickte Schneider dann in die Augen, um mit leiser Stimme zu antworten:
»Es war vor zwanzig Jahren. Da habe ich Georg den Ball zurückgegeben.«
»War das an dem Tag, an dem Sie Georg Besserdich ermordet haben?«
»Wie bitte? Ich soll Georg...? Georg wurde ermordet?«
Nun war Wiebe wirklich ausgelaugt. Die Ratlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Herr Wiebe, erzählen Sie mir von der Rückgabe des Fußballs.«
Er holte noch einmal tief Luft und begann ganz langsam und leise:
»Es war 1990. Am 30. April 1990. Ich war in Würzburg, um mit meiner Mutter die Erbschaft meines Vaters entsprechend seinem Testament aufzuteilen. Ich war von Amerika rübergekommen und hatte ein paar Tage Zeit mitgebracht. Mit meiner Mutter habe ich mich nicht verstanden. Mit ihr mehr Zeit zu verbringen als unbedingt nötig, war mir ein Graus. In meinem alten Kinderzimmer entdeckte ich Georgs Ball, den ich ihm weggenommen hatte, weil ich als Kind eifersüchtig war. Er hatte Eltern, die sich wirklich Gedanken um ihren Sohn machten. Gedanken, wie sie ihm eine Freude bereiten könnten. Ich bekam immer nur Geld. Ich wäre dafür gestorben, wenn meine Eltern mir jemals etwas so Kostbares geschenkt hätten, etwas so Persönliches. Bestimmt hatte es Georgs Eltern Mühe gekostet, all die Autogramme auf den Ball zu bekommen. Ich war todtraurig und wollte, dass Georg auch traurig ist. Also habe ich den Ball gestohlen. Er war allerdings nicht traurig, sondern wütend. Um mich weiter zu befriedigen, habe ich den Ball misshandelt. Ich meine, Georg hat den Ball gehütet wie seinen Augapfel. Und ich habe ihn mit in den Wald genommen und damit geschossen. Als ich den Fußball dann nach all den Jahren sah, kamen mir die Tränen und ich wollte es wiedergutmachen, vor allem zu meiner Missetat stehen. Ich wollte meinen Frieden haben, mich nicht weiter mit all dem Mist belasten. Da habe ich ausfindig gemacht, wo Georg damals wohnte. Das war einfach, denn soviele Besserdichs gibt es ja nicht. Also setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Hannover. Dann verließ mich der Mut, einfach bei ihm aufzukreuzen, und ich rief erstmal an. Es meldete sich ein Junge – Georgs Sohn. Er sagte mir, dass sein Vater nicht da war und dass er wahrscheinlich erst am Abend nach Hause kommen würde. Und er erklärte mir, wo er sich aufhielt – im Harzer Hochmoor. Da ich ohnehin nichts weiter vorhatte, fuhr ich in den Harz, kaufte mir eine Wanderkarte und fand den Parkplatz am Moor. Es standen nur zwei Autos da. Eins davon hatte eine hannoversche Nummer. Da ich nicht für eine Wanderung angezogen war, das Wetter war außerdem gräßlich, und schließlich wollte ich Georg nicht verpassen, blieb ich im Wagen sitzen. Es war mittlerweile nachmittags. Nach einiger Zeit kam ein Mann aus dem Wald und ging zu dem Wagen mit der hannoverschen Nummer. Ich erkannte ihn nicht gleich, sprach ihn aber an: Hallo Georg . Er schaute mich erstaunt an und grübelte nach, wer ich war.«
»Hat er Sie erkannt?« fragte Schneider.
»Ich weiß nicht. Er hat mich nur angesehen, bis ich ihm sagte, wer ich bin. Dann brachte ich heraus: Ich will dir etwas zurückgeben, was ich dir vor langer Zeit gestohlen habe. Ich holte den Karton mit dem Ball aus dem Wagen und gab ihn ihm. Er öffnete den Karton und sagte grinsend: Du altes Arschloch. Ohne jedes weitere Wort setzte er sich in sein Auto und fuhr davon.«
»In welchem Zustand war Herr Besserdich, ich meine sowohl körperlich als auch seelisch? War er erregt, abgekämpft? War seine Kleidung zerschlissen?«
»Er schien in sich vertieft, ja, und auch etwas kopflos. Äußerlich, ja, daran kann ich mich nicht erinnern. Er war halt angezogen wie ein Wanderer bei
Weitere Kostenlose Bücher