Lilly Höschen (01): Walpurgismord
würde mich angeblich immer noch lieben und all das Zeug. Also beschlossen wir, in den Harz zu fahren, wo ich immer schon gern war, und uns dort in aller Abgeschiedenheit aussprechen. Wir fuhren also los, gingen ins Moor, fanden eine sehr ablegene Stelle und setzen uns auf einen Baumstamm. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Es war so, als ob wir die einzigen Menschen auf der Welt wären. Es fing auch ganz harmonisch an. Irgendwann reagierte ich dann gereizt, weil ich einfach nicht ertragen konnte, was geschehen war. Und als sie mir dann auch noch sagte, dass ich ja eigentlich froh sein könnte, dass mein Freund Hans bei der Zeugung für mich „eingesprungen“ sei, da war ich am Ende. Ich hatte auf einsamen Wanderungen immer meinen Revolver dabei. So auch an diesem Tag. Ich zog ihn heraus und drückte zweimal ab. Es dauerte eine ganze Zeit, bis mir bewusst wurde, was geschehen war. Schließlich kam ich wieder zu mir und suchte eine Stelle, wo ich sie im Moor verschwinden lassen konnte.«
»Könnten Sie diese Stelle heute noch wiederfinden?«, wollte Kommissar Schneider wissen.
Georg sah ihn mit einem Ausdruck des Ekels an und sagte: »Das ist mir sowas von scheißegal. Sie soll da bleiben, wo sie ist. Bis zum Jüngsten Tag.«
»Gut, dann erzählen Sie einfach weiter.«
Georg musste ein paar Mal tief durchatmen und einen Schluck Wasser trinken. Dann fuhr er fort:
»Als ich sie in ihr nasses Bett gebracht hatte, suchte ich alles ab, ob ich nicht irgendetwas vergessen hatte. Aber da war nichts. Also ging ich zurück zum Parkplatz. Und da passierte etwas völlig Verrücktes. Ein Mann kam auf mich zu und entpuppte sich als ein alter Schulkamerad: Michael Leutkamp. Den hatte ich zuletzt gesehen, als ich neunzehn war. Und er gab mir einen Fußball, den er mir als Kind geklaut hatte. Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Ausgerechnet an diesem vermaledeiten Tag kommt dieser Typ daher und bringt mir meinen geklauten Ball, um den ich als Kind lange getrauert hatte. Ich konnte weiter gar nichts sagen, setze mich ins Auto und haute ab.«
»Und wohin sind Sie dann gefahren?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich bin erst ziellos in der Gegend herumgefahren. Ich konnte ja schlecht nach Hause kommen ohne meine Frau. Was hätte ich dem Bengel erzählen sollen, wo seine Mutter abgeblieben ist? Irgendwann stellte ich jedenfalls ganz verwundert fest, dass ich in Bremen war. Ich nahm mir ein Zimmer und eine Auszeit zum Nachdenken. Ein paar Tage später schlich ich nochmal in die Wohnung in Hannover, um das dort deponierte Bargeld und meinen Pass zu holen, in dem ein Visum für Indien eingetragen war. Meine Bankkarte wollte ich nicht mehr benutzen, damit man mich nicht lokalisieren konnte. Dann fuhr ich nach Amsterdam und nahm mir ein Ticket nach Indien.«
»Wieso hatten Sie ein Visum für Indien?«
»Ich hatte eine Geschäftsreise geplant. Die geschäftlichen Termine habe ich aber nicht wahrgenommen. Stattdessen baute ich mir dort ein neues Leben auf.«
»Wie geht das?«
»Das ist eine ganz andere Geschichte. Fragen Sie mich nicht. Jedenfalls bin ich dort geblieben, obwohl ich ja kein Dauervisum hatte. Aber in diesem riesigen Land fällt das kaum auf. Jedenfalls kam ich dort nach etwa einem Jahr wieder auf einen grünen Zweig. Und irgendwann habe ich mir einen neuen Pass gekauft. Und seitdem heiße ich Hermann Rehm. So einfach ist das.«
»Und wann sind Sie wieder zurückgekommen?«
»Das war vor drei Jahren. Ich hatte es gut in Indien, genug Geld, Beziehungen, alles was der Mensch braucht. Aber ich bekam auch Heimweh. Irgendwann war ich es leid, in diesem übervölkerten Land zu leben. Die fremde Kultur, die Armut, das Wetter. Ich habe mich nach dem Harz gesehnt. Nach Regen, Schnee und Glatteis, nach Wanderungen im tiefen Fichtenwald. Also habe ich mir wieder einen Pass besorgt mit entsprechenden Visa und Stempeln und dem ganzen Kram. Das ist nicht billig, wenn es hundertprozentig authentisch sein soll. Aber ich hatte genug Geld und und Mittel, um hier in Wohlstand leben zu können.«
»Wo haben Sie in Deutschland gewohnt?«
»Zunächst habe ich mir eine Wohnung in Bremerhaven genommen. Dann bin ich nach Hannover gezogen. Aber ich war oft im Harz. Mal hier, mal da, immer als Tourist. Und dann konnte ich nicht mehr anders, als die Leute ausfindig zu machen, die mein altes Leben zerstört hatten.«
»Pater Sigismund und Hans Gutbrodt?«, fragte Kommissar Schneider.
»Sie sind ganz schön schlau, Herr Kommissar, aber da gab es
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