Lilly unter den Linden
Rituale heimisch zu fühlen: die morgendliche Badezimmerordnung, die gemeinsame Fahrradfahrt zur Schule, die Tasse Kakao vor dem Schlafengehen und all die vielen kleinen Dinge, mit denen es Lena gelang, aus der leeren, elternlosen Wohnung wieder ein Zuhause zu machen.
Schlagartig wurde Rita bewusst, wie sehr sie das Zusammenleben mit ihrer Schwester trotz all ihrer Gegensätze zu schätzen gelernt, wie gewissenhaft Lena das Versprechen erfüllt hatte, das sie ihr im Krankenhaus gegeben hatte. Lena war es, die ihrer beider Lebensunterhalt verdiente, die nach Feierabend auf die zermürbende Jagd nach den Gütern des täglichen Bedarfs ging, Ritas Taschengeld auszahlte und sich den Kopf über ihre Zukunft zerbrach. Sie sorgte, stritt und kämpfte für die kleine Schwester, und Rita wusste, dass sie sich auf Lena verlassen konnte, wie sich ein Kind auf seine Mutter verlässt. Und wie ein Kind erfüllte die Aussicht auf Veränderungen sie mit Panik.
Denn Rolf Wollmann war ein ganz anderes Kaliber als der pflegeleichte Bernd, der Lena klaglos wieder ins Elternhaus hatte ziehen lassen, der sein eigenes Leben führte und zufrieden war, wenn sie ab und zu das Wochenende mit ihm verbrachte. Rolf war jemand, mit dem man alt wurde und eine eigene Familie gründete. Wenn Lena sich für ihn entschied, würde Rita in diesem Haushalt überflüssig sein.
Einer nach dem anderen traf ein, schüttelte die nasse Regenjacke aus und freute sich, dem Wetter getrotzt zu haben. Als Rolf endlich kam, waren er und Lena ernster als sonst, gaben einander die Hand und schienen sich dabei mit einem raschen, prüfenden Blick zu messen.
Vielleicht, dachte Rita mit leiser Hoffnung, war die Entscheidung doch noch nicht gefallen?
Aber an der Art, wie Lena Rolf beim Lesen intensiv beobachtete, wie er sich wiederholt verhaspelte und die Unruhe der beiden im Laufe des Abends immer mehr zunahm, war unschwer zu erkennen, dass eine Frage im Raum stand und dass sie sie so rasch wie möglich klären wollten.
An diesem Abend wollte die Diskussion nicht recht in Gang kommen, als hätten mehrere der Beteiligten kein Wort von dem gehört, was gelesen worden war. Trotzdem wurde es halb elf, bis sich die Besucher in das unwirtliche Wetter verabschiedeten, ohne dass auch nur ein Wort zwischen Lena und Rolf gefallen war. Er schlüpfte in seinen Mantel, klemmte den altmodischen Regenschirm unter den Arm, wünschte eine Gute Nacht und war mit den anderen verschwunden. Verwirrt sah Rita zu, wie Lena in Gedanken versunken das Teegeschirr wegspülte. Sollte das alles gewesen sein?
Zehn Minuten später hängte ihre Schwester gewissenhaft das Abtrockentuch auf die Leine, zog ihren Mantel an und verließ die Wohnung, und Rita, die sich an der Fensterscheibe die Nase platt drückte, sah, wie sie aus dem Haus trat und fast im Laufschritt die Straße überquerte. Der Regen prasselte gegen die Scheibe, doch undeutlich erkannte Rita, wie sich zwischen den Bäumen der gegenüberliegenden Straßenseite eine Gestalt löste. Sie blieb vor Lena stehen und es bedurfte offenbar nicht vieler Worte, denn aus ihrer beider Schatten war urplötzlich ein einziger geworden, der bewegungslos im Regen stehen blieb und vollkommen zu verschmelzen schien.
Lena Engelhart und Rolf Wollmann heirateten im Januar 1973. Bernd Hillmer, der sich als ein zwar erstaunter, aber fairer Verlierer erwies, organisierte den Sektempfang nach der Trauung, und er und Rita saßen danach noch lange zwischen ausgetrunkenen Gläsern am Tisch und meditierten darüber, dass sich ihr Leben durch diese Ehe möglicherweise ebenso einschneidend verändert hatte wie das von Lena und Rolf. Wieder einmal hatte Rita das tröstliche Gefühl, in Bernd einen Verbündeten zu haben.
»Was wirst du jetzt machen?«, fragte sie. »Du kommst doch weiter zum Leseabend?«
»Angesichts der Tatsache, dass die verdammten Bücher uns auseinander gebracht haben, werde ich von heute an lieber Platten hören«, meinte Bernd, aber er lachte dabei und Rita hatte nicht das Gefühl, dass er Lena irgendetwas nachtrug.
Vier Wochen später musste Rudi mit der Mütze, der an der Jenaer Universität Deutsch und Geschichte studierte, mitten im Semester plötzlich seinen Leseausweis abgeben. Offenbar war der »Missbrauch« entdeckt worden, den er damit trieb: Er schrieb unerlaubt Zeitschriften aus dem nichtsozialistischen Ausland ab und verbreitete diese in der Öffentlichkeit! Rudi wurde nicht exmatrikuliert – das kam später –, aber sein
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