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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Studium war ohne einen Bibliotheksausweis so gut wie beendet. Er ließ Lena über einen Kommilitonen eine Warnung zukommen, dass sie möglicherweise von der Staatssicherheit überwacht wurden; sehen lassen wollte er sich bei ihr nicht mehr, um die Gruppe nicht in Gefahr zu bringen.
    Der kleine Lesezirkel war in heller Aufregung. »Was können die uns schon anhaben?«, versuchte Rolfs Nachbar Heinrich die anderen zu beruhigen. »Wir lesen die Bücher, die Rolf vom Suhrkamp-Verlag bekommt. Da ist doch nichts dabei. Das sage ich jedem, der es hören will, ins Gesicht!«
    Nein, etwas ausdrücklich Verbotenes hatten sie mit Ausnahme von Rudi nicht getan. Aber woher waren all die Einzelheiten bekannt, mit denen man Rudi konfrontiert hatte und die nur jemand wissen konnte, der dabei gewesen war? Der Verdacht lag nahe, dass es in ihrer Runde eine undichte Stelle gab, und man brauchte nicht lange zu warten, bis der Name desjenigen fiel, der seit Lenas und Rolfs Hochzeit fehlte.
    Lena und Rita mochten den alten Freund noch so vehement verteidigen: Plötzlich glaubten alle zu wissen, dass Bernd als künftiger Wissenschaftler anfällig sei für Beeinflussung durch die »Stasi«, dass er viel zu viel zu verlieren habe, um sich eine Ablehnung leisten zu können, wenn man an ihn herantrat. Man wusste doch, wie der Geheimdienst einem nützlichen Informanten zusetzen konnte und mit welchen Maßnahmen man ihm für den Fall gedroht haben konnte, dass er sich weigerte zu kooperieren! Und hatte Bernd nicht mitunter ernsthafte Meinungsverschiedenheiten mit Rudi gehabt? Die bebrillte Susann, Lehrerin wie Lena, behauptete, immer gespürt zu haben, dass die beiden sich nicht mochten.
    »Wir haben nie erfahren, was wirklich passiert ist«, erzählte meine Mutter, »aber es war der Anfang vom Ende der Leseabende. Plötzlich war das Misstrauen da. Lena war überzeugt, dass Bernd Rudi nicht verraten hatte – aber wenn nicht Bernd, wer dann? Es gab viele dieser halb legalen Lesekreise in Privathaushalten, aber sie alle beruhten auf dem Prinzip des Vertrauens. Es wurde dabei ja nicht nur vorgelesen. Es wurden Meinungen geäußert, es wurde offen kritisiert, es wurden Witze über die Partei gemacht. Wenn man nicht mehr sicher sein konnte, vor den anderen frei sprechen zu können, konnte man genauso gut zu Hause bleiben. Tja, und so ist es auch gewesen. Einer nach dem anderen blieb einfach zu Hause.«
    »Und Bernd?«
    »Ein paar Wochen später stand er vor der Tür, fröhlich wie immer, und wollte eine Flasche Wein mit uns trinken. Er hatte sein Diplom mit Auszeichnung bestanden und auch schon eine interessante Arbeitsstelle in Aussicht.« Die Stimme meiner Mutter hatte plötzlich einen ironischen Unterton. »Das Ministerium für Staatssicherheit wollte ihn haben. Er würde einer Abteilung angehören, die die Kleinstgeräteentwicklung weiter vorantreiben sollte.«
    »Dann hat er es also doch getan, das Schwein«, stellte Pascal fest.
    »Wir haben es nie erfahren«, wiederholte Mami. »Aber sein Wissen in den Dienst der Stasi zu stellen und zu helfen, all die schlauen kleinen Geräte zu entwickeln, um Leute noch besser überwachen und abhören zu können – das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Als er damit rausrückte, hat Lena ihm seinen Wein mitten ins Gesicht geschüttet. Sie ist einfach aufgestanden und gegangen und hat nie mehr ein Wort mit ihm gesprochen. Rolf war vorsichtiger, er wollte keinen Feind bei der Stasi haben, und Bernd war im ersten Moment vollkommen perplex. Er hat gar nicht verstanden, was los war, er hat ja nur seine wissenschaftlichen Möglichkeiten gesehen. Als er merkte, dass die beiden das verwerflich fanden, ist er wütend geworden. Da habe ich das erste Mal gespürt, dass Bernd auch gefährlich sein konnte. Er war ein lustiger, gutmütiger Typ, aber er hatte seinen Ehrgeiz und seinen Stolz, und Lena hatte ihn furchtbar beleidigt.«
    Unter der Terrasse raschelte es, vielleicht ein Igel, der einen Regenwurm ausgrub. »Nach diesem Abend habe ich immer Angst um Lena gehabt«, sagte meine Mutter und fügte leiser hinzu: »Bis ich Lillys Vater traf. Von dem Zeitpunkt an dachte ich an andere Dinge.«
    »Aber ihr hattet doch Hoffnung. Es sollte doch alles besser werden mit diesem neuen Mann an der Spitze«, wandte ich ein.
    »Es sah eine Zeit lang auch ganz so aus. In Jena entstanden kritische literarische Zirkel und Arbeitskreise, die anfangs von der FDJ sogar ermutigt wurden. Die Nervosität des Staatsapparates kam

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