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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Bettwäsche und Handtücher aus dem obersten Schrankfach holte.
    »Die Heizung wird schon warm, merkst du’s?«, rief ich schließlich. »Du kannst es dir aussuchen: Möchtest du im Gästezimmer schlafen, in Mamis Zimmer oder in meinem?«
    Lena erschien in der Tür. »Und du?«, fragte sie.
    Ich verzog enttäuscht das Gesicht. »Ach, ich wusste doch nicht, dass du kommst. Jetzt habe ich keinen Ausgangsschein und muss im Internat schlafen.«
    »Und da kann man nichts machen?«
    »Gar nichts. Im Büro ist am Wochenende niemand.«
    »Ach, wie schade. Na, dann nehm ich doch das Gästezimmer«, entschied Lena.
    »Hier entlang bitte!« Ich tanzte beinahe vor Lena durch die Wohnung. In meinem Kopf flimmerte es; ich war todmüde und hatte gleichzeitig das Gefühl zu schweben. »Also, hier ist mein Zimmer, hier Mamis Zimmer, hier die Dunkelkammer …«
    »Welche Dunkelkammer?«, rief Lena.
    »Na, die von Pascal, wenn er hier ist.« Ich knipste das Rotlicht in der Dunkelkammer an und genoss Lenas überraschten Blick. »Mamis Freund. Er hat alle Bilder gemacht, die du hier siehst. Hier werden die Fotos entwickelt. Ich hab ihm oft geholfen. Macht Spaß.«
    Wir gingen ins Gästezimmer am Ende des Flurs und begannen gemeinsam das Bett zu beziehen. »Und wo ist er jetzt?«, fragte Lena. »Ich meine …«
    »Irgendwo in der Südsee. Hat’s mal wieder nicht geschafft.«
    Als ich erwachte, wusste ich sekundenlang nicht, wo ich mich befand. Ich lag zugedeckt in meinen Kleidern auf dem Gästebett, die Nachttischlampe brannte, weil es draußen schon dunkel war, und als ich mich aufsetzte, fühlte ich mich so erhitzt und schwindlig wie in einem Fieber. Nur langsam kehrte die Erinnerung zurück. Mami! Lena! Mein Leben ein heilloses Durcheinander, und ich war einfach eingeschlafen! Ich erinnerte mich, dass wir auf dem Bett gesessen und uns unterhalten hatten. Aber dann …
    »Hallo, mein Schatz«, sagte meine Tante fröhlich. Sie hatte ihre Beerdigungsbluse gegen einen dicken Wollpullover ausgetauscht, die Heizung herunter- und einen klassischen Radiosender angedreht und irgendwo in den verlassenen Küchenschränken eine Fertigpackung Spagetti mit Tomatensoße aufgespürt. Die blubberte nun im Kochtopf vor sich hin, während Lena den Tisch deckte: mit unserem schönsten Geschirr aus dem Wohnzimmerschrank, einem feinen Tischtuch und einer Kerze, die sie vorsichtig anzündete, bevor sie sich lächelnd zu mir umwandte. Ich sah, dass Lenas Augen nicht weniger strahlten als die Kerze. Das ist für Mami, dachte ich. Das ist unser Erinnerungsfest.
    Meine Kehle zog sich zusammen. »Wo hast du das bloß alles gefunden?«, fragte ich.
    »Ich kenne doch meine kleine Schwester«, erwiderte Lena verschmitzt. »Ich wusste immer, wo sie ihre Schätze aufbewahrt …«
    »Arme Mami!« Ich musste lachen.
    Lena zog mit großer Geste einen der Stühle nach hinten. »Bitte!«, sagte sie.
    Ich stand stumm da. Lena musste mich vor ein paar Stunden praktisch schlafen gelegt haben, hatte mir Schuhe und Mantel ausgezogen und die Bettdecke glatt gestrichen und ich bedauerte, dass ich mich an keine dieser liebevollen Berührungen erinnern konnte.
    Etwas wie Sorge huschte über Lenas freundliches Gesicht. »Was ist denn?«, fragte sie. »Ist dir das zu …«
    »Nein, nein.« Ich stieß mich vom Türrahmen ab und kam verlegen an den Tisch. »Das ist schön, wirklich … ich bin nur so furchtbar müde. Mein Kopf ist wie ein Luftballon, da ist gar nichts drin, ich kann überhaupt nicht denken …«
    Lena schob mir den Stuhl zurecht, verschränkte von hinten die Arme über meiner Brust und legte ihre weiche, kühle Wange an meine Stirn. So verharrte sie eine ganze Weile. »Du bist viel zu tapfer, Lilly«, sagte sie, bevor sie mich wieder losließ und zum Herd zurückkehrte.
    Ich weiß nicht, wo genau es angefangen hat – dort in der Küche zwischen Kerzen und Spagetti, auf dem Friedhof oder in jenem unvergesslichen Moment in der Kirche. Ich weiß nur, dass es ausgerechnet der Tag der Beerdigung meiner Mutter war, an dem ich erstmals seit langer Zeit wieder diesen kleinen inneren Luftsprung verspürte, diese Alles-wird-gut-Leichtigkeit, die die Menschen Hoffnung nennen.
    »Kneif mal die Augen ein bisschen zu«, sagte Lena. »So, dass du ein bisschen verschwommen siehst.«
    Ich kniff die Augen zu. Wir standen auf dem Balkon, es war sehr still und ich hörte, wie die U-Bahn sich entfernte, die eben noch hell erleuchtet den Isekanal überquert hatte. »Jetzt stell

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