Lilly unter den Linden
Teresa stand Meggi Pfeiffer vor mir. Ich hatte nicht erwartet, dass jemand aus meiner Klasse zur Beerdigung kommen würde, aber wenn ich mir jemanden hätte wünschen dürfen, wäre es Meggi gewesen. Meggis offenes, mitfühlendes Gesicht, ihre ausgestreckte Hand waren eine einzige Einladung zur Freundschaft. Ich ergriff die Hand, und wir mussten ganz überraschend beide lächeln.
Dann standen Lena und ich allein im Schnee neben dem Grab. Zwei Männer hatten begonnen, es zuzuschaufeln, und jetzt, wo alles schon fast vorbei war, hatte ich plötzlich das Gefühl, es keine Sekunde länger aushalten zu können. »Ich kann das nicht hören«, stieß ich hervor und schloss die Augen.
»Das geht mir genauso«, sagte Lena. Sie legte mir einen Moment die Hand auf die Schulter, und wir gingen langsam davon. Leichter Schneefall hatte wieder eingesetzt, und ich blinzelte in die Sonne. »Wo hast du deine Sachen?«, fragte ich.
»In der Kirche«, sagte Lena. »Ein Schirm ist aber leider nicht dabei.«
Mein Herz tat einen kleinen Sprung, ich blieb stehen. »Weißt du, dass das die ersten Worte sind, die wir miteinander sprechen?«
»Du hast Recht«, antwortete meine Tante. »Ach …! Hätte ich da nicht etwas Schöneres sagen können als: Ein Schirm ist leider nicht dabei ?«
Wir standen einander gegenüber und sahen uns neugierig an. Ein kleines braunes Eichhörnchen huschte dicht neben uns über den Weg, blieb kurz auf den Hinterbeinen stehen und hoppelte gemächlich zwischen den Gräbern davon. »Vorhin in der Kirche«, hörte ich mich sagen, »das war wie … das kann man gar nicht beschreiben. Ich dachte, da steht ein Engel.«
»Ein Engel?«, wiederholte Lena.
Ich sprach schnell weiter, um meine Verlegenheit zu überspielen. »Nicht so ein … so ein Lichtdings«, sagte ich, »sondern ein richtiger Engel. Etwas total Lebendiges, mit so viel Kraft, dass dir das Herz stehen bleibt. Einer, der dir geschickt wird, wenn du in Gefahr bist oder nicht mehr weiter weißt. Du brauchst ihn nur anzusehen, das reicht schon, dann kannst du wieder. Ich dachte, du wärest einer … aber weißt du was? Es macht überhaupt nichts aus, dass du kein Engel bist. Das Engel- Gefühl , das ist immer noch da.«
Ich hielt etwas atemlos inne. Selbst in meinen eigenen Ohren klangen diese Worte seltsam – aber es stimmte, ich fühlte mich stärker, als ich je für möglich gehalten hätte, und ich hatte auch schon fast den Mut, Lena zu umarmen, einfach so! Ich konnte mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal irgendjemanden außer Mami umarmt hatte, aber Lena schien die richtige Person, es zu versuchen. Der Wunsch war plötzlich fast übermächtig, aber wie fing man so etwas an?
Lena fand – natürlich – die Zauberworte. »Ach Lilly«, sagte sie, »wenn das so ist … kannst du mich dann nicht ein bisschen trösten?«
Wie einfach es war! Nur ein einziger kleiner Schritt, die Arme ein wenig ausbreiten, das Gesicht in Lenas weitem Mantel vergraben, ganz still dastehen und spüren, wie eine zarte Hand mir über den Kopf streicht und eine Stimme flüstert: »Lilly, mein Herz, darauf habe ich so lange gewartet.«
Die Wohnung verströmte einen eigenartigen Geruch, ein Gemisch aus vertrockneten Grünpflanzen, ungelüfteten Kleidern und angestaubten Teppichen. Anfangs war ich einmal in der Woche hier gewesen, hatte die Fenster geöffnet, die Pflanzen gegossen, allein auf der Wohnzimmercouch gesessen und sämtliche Reklamesendungen durchgeblättert. Aber mit der Zeit wurde es immer schwerer, in eine Wohnung zurückzukehren, in der man nicht mehr schlief, in der nur noch die Bruchstücke eines früheren Lebens abgestellt waren. Hin und wieder diente die Wohnung Pascal als Schlafplatz, wenn er zwischen zwei Aufträgen kurz nach Hamburg kam. Pascal konnte es nicht ertragen, Mami leiden zu sehen. Wenn er in der Stadt war, rief er mich jedes Mal an, um zu fragen, ob es Mami wirklich gut genug ging, um Besuch zu empfangen. Ich hatte sogar den leisen Verdacht, dass er in der letzten Zeit einige Male in der Wohnung übernachtet hatte, ohne sich bei uns zu melden.
Aber seine Fotos von Mami waren noch da: an den Wänden, auf dem Kaminsims, selbst im Badezimmer, von überall schaute sie uns an. Ich nehme an, dass es für Lena ein Schock war, unsere Wohnung zu betreten. Sie ging an den Bildern entlang und guckte und staunte, und ich hörte nicht ein einziges Wort von ihr, während ich in Mamis Schlafzimmer auf einen Stuhl kletterte und
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