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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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erst, als man merkte, dass sich diese Gruppen nicht kontrollieren ließen. Mitte der siebziger Jahre wurden etliche Studenten exmatrikuliert, mehrere Facharbeiter entlassen, Schriftsteller und Liedermacher verhaftet oder des Landes verwiesen. Der kulturelle Frühling, auf den viele gehofft hatten, war schnell zu Ende.« Mami schüttelte den Kopf. »Aber das habe ich alles gar nicht mehr mitbekommen. Da war ich längst weg. Da war ich in Hamburg und hatte dich, mein Spatz, und war einfach nur froh, dass das alles hinter mir lag.«
    Das konnte ich gut verstehen, und ich war so froh, dass mein Vater gekommen war und meine Mutter aus der DDR gerettet hatte! Nicht auszudenken, wenn Mami und ihre Freundin Hanna nach dem Abitur nicht die Reise nach Budapest gemacht und im Zug nicht meinen Vater kennen gelernt hätten, der in den Semesterferien mit einem Schlafsack und einem Interrail-Ticket durch Europa trampte. Für den Sportstudenten Jochen Kupfer gab es keine Grenzen. »Lasst euch das bloß nicht einreden, Mädels«, sagte er, und Hanna lachte über den ahnungslosen Jungen aus dem Westen.
    Aber meiner Mutter imponierte er. Als er sie wiedersehen wollte, stimmte sie sofort zu, und als er tatsächlich am ersten Samstag des nächsten Monats um die vereinbarte Zeit »Unter den Linden« in Ostberlin auf sie wartete, wusste sie, dass es wieder einmal so weit war und ein vertrauter Lebensabschnitt zu Ende ging.
    Meine Mutter trug noch seinen Ring, als wir sie an diesem kalten Novembertag beerdigten. Und ich saß neben Lena, die erst ihre große Schwester, später ihre Ersatzmutter gewesen war, und hatte plötzlich die seltsame, unerklärliche und gänzlich aberwitzige Vorstellung, dass Mami mich ihr übergeben wollte.

5
    Bis an mein Lebensende werde ich mich an das Geräusch erinnern, mit dem die feuchte Erde auf Mamis Sarg aufschlug. Es traf mich wie ein Donnerschlag, als ich erst mein kleines Blumengebinde und dann die rituelle Schaufel Sand hinunterwarf. Ich hatte das Gefühl, meterweit nach hinten katapultiert zu werden, aber in Wirklichkeit blieb ich stehen, stumm vor Schock, und die Explosion spielte sich nur in meinem Inneren ab. Ich versuchte mich auf anderes zu konzentrieren, so wie es vorhin in der Kirche noch funktioniert hatte: auf das knisternde Tauen der Wassertropfen in den Zweigen, das Knirschen von Schuhen im Kies. Doch die leisen dumpfen Schläge ließen sich auch von der Stille des Friedhofs nicht übertönen. Ich versuchte an Mami zu denken und sie auf diese Weise wissen zu lassen, dass sie in meiner Erinnerung niemals begraben werden würde, aber es wollte mir nicht gelingen. Mein Kopf war wie leer gefegt.
    Aber dann passierte etwas Seltsames. Unter den Trauergästen, die am Grab vorbeidefilierten, erkannte ich Teresa Dommertin. Ich hatte sie drei Jahre zuvor zum ersten und letzten Mal gesehen, als Mami und ich in Köln gewesen waren, um ein Theaterstück zu besuchen, in dem Teresa mitspielte. Sie war die Frau, die meinem Vater geholfen hatte, meine Mutter in den Westen zu holen. Dass sie Schauspielerin war, hatte bei Mamis Flucht eine entscheidende Rolle gespielt. Ich liebte diese Geschichte, und die unerschrockene Teresa war immer eine Heldin für mich gewesen. Dass sie den ganzen Weg von Köln nach Hamburg gekommen war, um an der Beerdigung teilzunehmen, beeindruckte mich. Und obwohl sie kaum noch Kontakt zueinander gehabt hatten, nahm Mamis Tod sie offenbar sehr mit. Teresa hatte wie Mami immer auffallend gut ausgesehen, aber jetzt wirkte sie fahrig und verhärmt, als sie mich küsste und sagte, wie Leid es ihr tue.
    Danach sah Teresa ängstlich auf Lena, die neben mir stand, und ich konnte buchstäblich hören, wie Lena der Atem stockte. Von einer Sekunde auf die andere wurde meine Tante schneeweiß – und Teresa wandte sich jäh ab und ging aufrecht und mit raschem Schritt davon. Lena stand wie angewurzelt und sah ihr nach. Ihre rechte Hand machte eine kleine Bewegung, als wolle sie Teresa aufhalten. Aber dann war der Moment vorbei, und sie stand wieder still neben mir.
    Ich begriff nichts. Ich konnte es einfach nicht zusammenbringen. Teresa war schließlich nur ein einziges Mal in der DDR gewesen – in der Nacht, in der sie Mami geholfen hatte, mit meinem Vater zu fliehen. Lena war doch gar nicht dabei gewesen. Woher kannten sie sich? Wieso erschraken sie, als sie einander sahen?
    Diese Gedanken gingen mir blitzartig durch den Kopf und waren blitzartig wieder verschwunden, denn gleich nach

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