Lilly unter den Linden
unterbrach ich Meggi, überwältigt, dass meine ureigensten Gefühle von einem anderen Menschen in derart treffende Worte gefasst wurden.
»Und jetzt?«, fragte Meggi, aus dem Konzept gebracht.
»Jetzt das mit dem Heimweh und den familiären Wurzeln«, erinnerte ich sie.
»Ach ja«, murmelte Meggi und schrieb konzentriert weiter. Dann las sie vor: »Da meine verstorbene Mutter vor vielen Jahren aus der DDR geflohen ist, habe ich vermutlich Heimweh, da ich meiner familiären Wurzeln entrissen wurde.«
Ich war hingerissen. »Meggi, du bist einfach genial.«
Meggi wurde rot vor Freude und schrieb eifrig weiter. Der Schluss unseres Briefes lautete so: »Bitte teilen Sie mir mit, wie man in die DDR ausreist. Für eine rasche Antwort wäre ich Ihnen dankbar, da Weihnachten vor der Tür steht. Hochachtungsvoll, Ihre Lilly Engelhart.«
»Und jetzt«, sagte Meggi, »brauchen wir noch ein Stichwort, falls die Antwort in der Zeitung erscheint.«
Ich brauchte nur kurz zu überlegen. Hamburg – Berlin – Jena, so hatte von Anfang an meine Route ausgesehen. Ich wollte unbedingt über Berlin fahren, ich wollte den Ort sehen, wo alles angefangen hatte. Ich wollte an der Stelle stehen, wo meine Eltern sich getroffen, wo die kurze Geschichte unserer Familie ihren Anfang genommen hatte: auf der großen Straße, die von Ost nach West führen würde, wenn es nicht die Mauer dazwischen gäbe …
Und so schrieb Meggi es auf, und so stand es dick unterstrichen über unserem fertigen Brief: »Stichwort: Lilly unter den Linden«.
Meine Mutter hatte sich einen besonders schönen Ort ausgesucht, um mir die Nachricht mitzuteilen: ein Caféschiff im Hamburger Hafen. Sie hatte ihr Haar zu einem weichen Knoten aufgesteckt, trug eine ganz bunte Bluse zur Jeans und sah so jung und wunderschön aus, dass einige Jugendliche am Nachbartisch ständig zu uns hinüberstarrten. Ich platzte fast vor Stolz, zumal wir beide ganz alleine, ohne Pascal, ausgingen was seit seinem Auftauchen in unserem Leben nur noch selten vorkam. Die Kellnerin brachte zwei große Eisbecher. Nichts in der Welt hätte mich auf das vorbereiten können, was Mami mir zu sagen hatte.
»Lilly«, begann sie nach einer Weile unvermittelt, »ich bin wirklich sehr, sehr froh, dass ich dich habe. Vielleicht weißt du das gar nicht, weil ich es nicht oft genug gesagt habe, aber … dass du da bist, das gibt mir ganz, ganz viel Kraft. Wenn ich dich ansehe, dann weiß ich einfach, dass ich praktisch alles schaffen kann …«
Ich sah sie verdutzt an. »Was denn?«, fragte ich.
»Zum Beispiel«, antwortete Mami und holte tief Luft, »zum Beispiel wüsste ich, dass ich, wenn ich für längere Zeit ins Krankenhaus müsste, mich voll und ganz auf dich verlassen könnte.«
Ich legte meinen Löffel hin. Ich hatte plötzlich einen ganz trockenen Mund, trotz des Eisbechers. »Ins Krankenhaus?«, fragte ich erschrocken.
»Ja«, sagte Mami mit fester Stimme. »Wie es aussieht, muss ich mich operieren lassen. Aber mach dir keine Sorgen, es geht bestimmt gut, und Pascal nimmt sich Urlaub und passt auf euch beide auf.«
»Wann denn?«, flüsterte ich.
»Schon bald«, flüsterte Mami. »Schon nächste Woche.«
Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Für länger?«
Mami malte mit dem Finger auf das Tischtuch. Sie sah mich nicht an. »Ich glaube schon. Die Nachbehandlung ist ziemlich anstrengend. Sie empfehlen, dass man solange in der Klinik bleibt. Aber ich habe beschlossen, es zu genießen! Ich werde mich ein paar Wochen richtig verwöhnen lassen!«
Als sie lächelnd aufblickte und mich ansah, wusste ich, dass sie schreckliche Angst hatte. »Was ist denn das für eine Krankheit?«, fragte ich leise.
Ich kannte nur zwei wirklich schlimme Krankheiten, Krebs und Aids und auch diese nur dem Namen nach. »Es ist ein kleiner Tumor in der Brust«, antwortete Mami.
»Aber doch kein Krebs, oder?«, fragte ich mit einem kleinen erschrockenen Lachen.
»Was weißt du denn darüber?«, fragte sie zurück.
Also doch. In meinen Ohren begann es zu summen, meine Fingerspitzen wurden augenblicklich eiskalt. »Dass heute die meisten Leute wieder gesund werden«, hörte ich mich sagen. »Kam neulich erst im Fernsehen.«
»So?« Ich hatte nichts dergleichen im Fernsehen gesehen, aber Mami sah plötzlich sehr viel fröhlicher aus. »Das haben sie mir auch gesagt. Es wird alles gut, Lilly, bestimmt, du wirst schon sehen …«
Es wird alles gut, es wird alles gut. Auf Mamis damaligem Platz saß
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