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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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an diesem Tag eine dicke Frau vor einer Apfeltorte, und ich blickte quer durch den Raum zu ihr hinüber und versuchte mir unablässig einzureden: Es wird alles gut …
    »Warst du schon mal hier?«, fragte Frau Gubler und blickte mich lächelnd über die Speisekarte hinweg an. Es war wieder Mittwoch, und wieder hatte sie sich etwas Besonderes einfallen lassen.
    »Ja, mit meiner Mutter«, antwortete ich und fügte mit voller Absicht hinzu: »Als sie mir gesagt hat, dass sie Krebs hat.«
    Frau Gubler verschlug es einen Moment die Sprache. Sie tat mir beinahe Leid, denn wie hätte sie auch wissen sollen, dass dieses Caféschiff einer der schrecklichsten Orte der Welt für mich war? »Ich empfehle dir den Schwarzwaldbecher«, sagte sie tapfer. »Den nehme ich auch immer.«
    Ich schaute in die Karte und tat, als ob die Buchstaben einen Sinn für mich ergäben. In Wirklichkeit blieb ich immer wieder an der obersten Zeile hängen, Kännchen Kaffee, Kännchen Kaffee, Kännchen Kaffee. »Ist das nicht langweilig – immer derselbe Becher?«, fragte ich mit Kratzstimme.
    »Es gibt bewährte Dinge, an denen man einfach festhalten sollte!«, erklärte Frau Gubler. »Erfahrungen, die man an andere weitergeben kann …«
    Aber nicht an mich, dachte ich. Als die Kellnerin an unseren Fenstertisch kam und Frau Gubler einen Schwarzwaldbecher und zwei Kakao bestellt hatte, klappte ich die Karte zu und sagte: »Einen Bienenstich!«, und zwar mit Blick auf Frau Gubler, damit kein Zweifel darüber aufkam, dass sie ihre Erfahrungen besser für sich behielt.
    »Nun erzähl doch mal«, forderte sie mich auf, als hätte sie nichts begriffen. »Was macht die Schule?«
    Ich sah an ihr vorbei aus dem Fenster.
    »Du fühlst dich da nicht besonders wohl, hab ich Recht?«, schmeichelte sie. »Das würde mir vielleicht auch so gehen, allein unter Frauen …« Sie beugte sich vor. »Ich habe mir Gedanken gemacht, Lilly. Bald sind Weihnachtsferien. Da willst du doch nicht allein im Internat bleiben.«
    Irgendwo in mir begannen Alarmglocken zu schrillen, ohne dass ich hätte sagen können, warum. Ich wusste, dass Frau Gubler mit der Direktorin meiner Schule gesprochen hatte, dass es dabei auch um meine nächtlichen Spaziergänge gegangen war. Ich hatte erwartet, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, und es machte mich ein wenig nervös, dass noch nichts dergleichen geschehen war. Der Ausflug auf das Schiff, das Gerede von Weihnachten … irgendwie brachte ich das alles nicht zusammen.
    »Wir hätten kurzfristig die Möglichkeit, dich unterzubringen«, sagte Frau Gubler nun verheißungsvoll. »Wenn du das willst.«
    »Wie denn unterbringen?«, fragte ich verwirrt.
    »In einer Familie.«
    Plötzlich lagen Fotos auf dem Tisch.
    »Das sind die Bertrams«, sagte Frau Gubler. »Jens und Margit und ihre beiden Söhne. Die sind etwas älter als du und auch Pflegekinder. Eine ganz liebe Familie ist das. Einen Hund haben sie auch, siehst du?«
    »Pflegekinder?«, wiederholte ich ratlos.
    »Ja. Das ist eine Pflegefamilie, Lilly. Ich habe ihnen von dir erzählt, und sie würden dich sehr gern kennen lernen.«
    Der Schock brachte mir meine Sprache zurück. »Ich habe schon eine Familie!«
    »Deine Tante, ich weiß.« Ein erster Anflug von Gereiztheit lag in Frau Gublers Stimme. »Das war schön, dass sie zur Beerdigung kommen konnte. Vielleicht darfst du sie ja auch mal besuchen. Die Bertrams hätten auf jeden Fall nichts dagegen.«
    »Die Bertrams? Moment mal!«, rief ich.
    Aber Frau Gubler sprach unbeirrt weiter: »Das hier wäre fürs Leben, Lilly. Eine Familie, zu der du wirklich gehörst, die für dich da ist, die dich lieb gewinnt.«
    Ein Arm griff an mir vorbei und stellte etwas auf den Tisch. Frau Gubler saß plötzlich hinter einem großen Eisbecher. »Ohne Menschen, die einen lieben, kann niemand leben. Du auch nicht, Lilly.«
    »Ich hab doch jemanden«, brachte ich heraus.
    »Aber nicht hier«, entgegnete Frau Gubler wie aus der Pistole geschossen.
    »Und wenn ich rübergehe?«
    Nun war es heraus, mein Geheimnis. Ich hielt den Atem an. Frau Gubler lehnte sich ungeduldig zurück.
    »Lass uns vernünftig miteinander reden, ja?«, sagte sie ärgerlich. »Deine Verwandten leben im Osten! Du kannst ihnen schreiben, Päckchen haben sie auch immer gerne, selbst ein Besuch ist sicher mal drin. Wenn es Frankreich wäre – kein Problem! Aber die DDR? Lilly, das ist die dichteste Grenze in ganz Europa. Und selbst wenn …«
    »Wenn was?«, hakte

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