Lilly unter den Linden
eigentlich vorhin mit Opfer gemeint?«, unterbrach ich ihn.
Wir starrten uns an. Dann senkte Pascal den Blick und ich spürte mit einem Mal wieder dieses seltsame Gefühl der Angst in mir, wie damals, als ich Lenas Briefe gefunden hatte.
»Fahr doch erst mal in den Ferien hin!«, schlug Jan vor.
»Und jede Nacht um zwölf macht sie den kleinen Grenzverkehr oder was?«
»Nein, braucht sie nicht. Wenn sie eine persönliche Einladung von einem DDR-Bürger hat, kann sie länger bleiben.«
»Siehst du, Lilly!« Pascals Gesicht hellte sich auf. »Das wäre doch was.«
»Das kann aber dauern«, wandte Jan ein. »Weihnachten wird das nichts mehr. Sie kann höchstens noch mit einem Tagesvisum über Berlin fahren und einfach dableiben. Wenn sie drin ist, ist sie drin.«
»Jetzt hör aber auf«, sagte Pascal ärgerlich.
»Du fährst sie rüber, setzt sie in den Zug nach Jena und kommst wieder zurück. Wo ist das Problem?«
»Wer, ich?« Pascal warf den Arm vor die Brust wie in einer antiken Tragödie. »Moment mal, das ist Kindesentführung!«
»Bis die auf dich kommen«, sagte Marc, »bist du längst in Acapulco.«
Pascal sprach aus tiefster Seele: »Nee. Nee, Leute. Ohne mich.«
Ich stand einfach auf und ging. Bevor die Wohnungstür hinter mir zuschlug, hörte ich einen der Jungs sagen: »Du willst sie wirklich hängen lassen?«
Im Hausflur rannte Pascal hinter mir her. Er nahm zwei Treppenstufen auf einmal und hielt mich am Ärmel fest. »Lilly, jetzt warte doch mal.«
Ich riss mich los. »Du hast gesagt, wenn ich Hilfe brauche, bist du für mich da!«, schrie ich ihn an. »Aber erst Mami im Stich lassen und jetzt mich, das ist alles, was du kannst!«
Noch bevor ich die letzte Silbe ausgesprochen hatte, tat es mir auch schon Leid; Pascal sah mich so schmerzerfüllt an, dass ich von neuem in Tränen ausbrach. Als die Tür zufiel, stand er immer noch da, völlig bewegungslos. Hinter dem Küchenfenster im ersten Stock hielt mir Jan den erhobenen Daumen entgegen, aber ich guckte gar nicht hin.
12
Arme Frau Gubler. Es muss ein Schock für sie gewesen sein, als sie am Vormittag des Heiligen Abends, quasi auf dem Weg zu ihrer Familienfeier, im Internat vorfuhr und statt einer dankbaren Lilly in Vorfreude auf die Bertrams nur eine aufgelöste Hausmutter antraf. Morgens beim Frühstück hatte sie mich noch gesehen und nichts hatte darauf schließen lassen, dass ich ausgerechnet an Weihnachten etwas derart Skandalöses vorhatte. Vor allem konnte die Hausmutter sich nicht erklären, wie ich mit Gepäck an der Pforte hatte vorbeigelangen können, denn seit Bekanntwerden meiner nächtlichen Ausflüge hatte man schließlich ein besonderes Auge auf mich.
Fassungslos standen Frau Gubler und die Hausmutter vor den Überresten meiner Garderobe, die im Kleiderschrank zurückgeblieben waren. Der Hausmutter fiel dann aber doch noch etwas ein, sie griff in ihre Schürze und förderte einen Brief zu Tage. »Den wollte ich ihr gerade bringen«, sagte sie. »Da habe ich dann gemerkt, dass sie weg ist.«
Frau Gubler öffnete den Brief mit dem rätselhaften Aufdruck »Fragen Sie Frau Irene« und begann zu lesen. Es wird erzählt, dass ihre Augen dabei riesengroß wurden; sie schlug sich an den Kopf und soll mit den Worten zu ihrem Wagen zurückgerannt sein: »Oh Gott, sie will in die Zone!«
Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich längst in flotter Fahrt auf der Autobahn von Hamburg nach Berlin, sang Radioschlager mit und war der festen Überzeugung, dass Frau Gubler und die Hausmutter meiner Vergangenheit angehörten. »Ich muss komplett verrückt geworden sein«, klagte sich Pascal an und umklammerte haltsuchend das Steuer.
Ich zwickte ihn liebevoll in den Arm. »Mami wäre so glücklich! Du bringst mich zu Lena!«, munterte ich ihn auf.
»Das wollen wir erst mal sehen!«, brummte er. »Die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass ich dich nach Acapulco mitnehmen muss. Falls ich den Flug noch erwische und nicht vorher schon an der Grenze verhaftet werde …«
Aber im Großen und Ganzen hatte er bereits die milde Gelassenheit eines Menschen, der sich in sein unausweichliches Schicksal gefügt hat.
In den zwei Tagen, die seit unserer letzten Begegnung vergangen waren, hatte sich meine Vermutung bestätigt, dass der beste Plan nichts wert ist ohne gute Freunde. Noch am gleichen Abend hatte Pascal mich angerufen und verkündet, dass er zu allem bereit wäre – vorausgesetzt, er werde aus allem herausgehalten. Diese mir nicht
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