Lilly unter den Linden
ich sofort nach, obwohl ich wie gelähmt war.
»Nun ja«, überlegte Frau Gubler. »Ich kenne keinen solchen Fall, aber selbst wenn über die konsularische Ebene etwas zu machen wäre, bliebe da immer noch die Frage der Schule, oder der Lebensverhältnisse deiner Tante. Die sind doch mit unseren gar nicht zu vergleichen. Man müsste vor Ort erst einmal prüfen, ob das überhaupt akzeptable Bedingungen sind.«
»Und diese … diese konsularische Sache?«, drängte ich. »Wie lange würde das dauern?«
»Drei Monate, ein halbes Jahr. Vielleicht wesentlich länger. So lange wirst du sicher nicht warten wollen!«
Meine Verzweiflung war mir wohl sehr deutlich anzusehen, denn Frau Gublers Gesicht wurde weich, sie beugte sich über den Tisch und griff nach meiner Hand. »Die Bertrams hätten ein wunderschönes Zimmer für dich! Und das Beste weißt du noch gar nicht. Sie wohnen in Eppendorf, du könntest wieder in deine alte Schule gehen! Na, was sagst du jetzt?«
Ich war völlig benommen. Das konnte nur ein Albtraum sein. Wenn ich den Atem anhielt, wachte ich vielleicht endlich auf …
Frau Gubler ließ meine Hand wieder los. »Ich würde dich gern am Dreiundzwanzigsten abholen.«
»Am Dreiundzwanzigsten?«, wiederholte ich schwach. »Das ist ja … schon übermorgen!« Frau Gubler nickte aufmunternd.
Meine Antwort bestand in der wohl folgenreichsten Notlüge meines ganzen Lebens. »Aber das geht doch gar nicht«, sagte ich mit letzter Kraft und wunderte mich, wie fest meine Stimme dabei klang. »Das ist doch Pascals Geburtstag. Da feiern wir zusammen, das ist schon lange ausgemacht.«
Frau Gublers Gesicht wurde unwillkürlich ein wenig länger; sie sah wohl ein, dass sie mir das letzte verbliebene Familienmitglied nicht auch noch nehmen konnte. »Na gut«, fügte sie sich widerwillig. »Dann am Vierundzwanzigsten – aber vormittags! Ich fahre nämlich Heiligabend auch zu meiner Familie«, verriet sie lächelnd. »Nach Lübeck!«
Wie wir den Rest dieses albtraumhaften Nachmittags verbrachten und wie ich vom Schiff in die Telefonzelle kam, kann ich nicht sagen. Pascal behauptet, diese sei von meinen Tränen so beschlagen gewesen, dass die Vorübergehenden einen großen Bogen darum machten, weil sie offenbar chemische Experimente, Drogenexzesse oder Streiche mit versteckter Kamera befürchteten. Ich selbst saß unter dem Notrufaufkleber und konnte vor lauter Tränen gar nicht erkennen, wer da plötzlich die Tür aufriss und mich in den Arm nahm.
Dann saßen wir in der kleinen düsteren WG-Küche und mit Pascals liebevollem Mitgefühl war es vorbei. »Das kommt überhaupt nicht in Frage, dass du da rübergehst!«, blaffte er mich an. »Deine Mutter rotiert im Grabe!«
»Meinst du denn, Mami war hier froh?«, schluchzte ich. »Allein war sie! Wenn sie zu Hause geblieben wäre, hätte Lena an ihrem Bett gesessen, als sie starb.«
»Zu Hause!«, wiederholte Pascal gekränkt. »Aha. Das da drüben ist also schon zu Hause ?«
Jan und Marc, die mir aus Pascals Erzählungen als »die Jungs« bereits bestens bekannt waren, versuchten zwischen uns zu vermitteln. Marc, der Ältere, war Redakteur bei einer Kinozeitschrift und hatte so dicke Brillengläser, dass seine Augen dahinter beinahe auf Druckknopfgröße zusammenschrumpften. Der andere, Jan, moderierte eine Radiosendung, für die er jeden Morgen um vier Uhr aufstehen und im Bad seltsame Stimmübungen machen musste, die Pascal anfangs zu der Annahme verleitet hatten, er habe schwerste Verdauungsprobleme.
»Ein Kind gehört zu seiner Familie«, meinte Marc und sah mich aus seinen Druckknopfaugen mitfühlend an.
»Prima, jetzt bestärkst du sie auch noch!«, schimpfte Pascal. »Es sind eine Menge Opfer dafür gebracht worden, dass Lillys Mutter hier in Freiheit leben konnte!«
»Freiheit?«, erwiderte Marc. »Lilly darf ihr Land nicht verlassen. Also, Freiheit ist das nicht.«
»Sie ist doch noch ein Kind, Mensch!«, rief Pascal aufgebracht. »Außerdem gibt es …«, er senkte die Stimme, »… Hintergründe! Ich bin mir gar nicht sicher, dass Lenas Familie sie überhaupt aufnehmen würde …«
Ich hörte auf zu heulen »Was?«, fragte ich ungläubig. »Du glaubst, Lena will mich nicht haben?«
Einen Moment war es ganz still. Ich bildete mir ein, dass Pascal ein klein wenig den Kopf einzog.
»Doch, doch, bestimmt«, versicherte er dann eilig. »Aber sieh mal, sie ist doch nicht alleine. Wer weiß, was der Mann und die Kinder …«
»Was hast du
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