Lilly unter den Linden
Ich hörte sie immer schneller werden und merkte erst nach lähmenden Schrecksekunden, dass es meine eigenen waren und dass ich trotz des schweren Rucksacks fast zu laufen begonnen hatte. Lautes Keuchen (meins!) umgab mich, wie mir schien, von allen Seiten. Aus einem Fenster hörte man ein dünnes Weihnachtslied.
Völlig außer Atem kam ich nach diesen längsten zehn Minuten meines Lebens endlich an einer breiten Straßenkreuzung an. Dahinter musste auf einem kleinen Platz das Tempelchen mit der Marmorstatue stehen. Was, wenn nicht?
Ich riskiere einen vorsichtigen Blick – jawohl, hurra, ich hab’s doch gewusst! Triumphierend laufe ich über die Straße darauf zu, obwohl ich hier eigentlich nach links abbiegen muss, und dabei fällt mir auch der Name wieder ein: Ernst Abbe heißt der ältere Herr, dem das Denkmal gewidmet ist. Er hat Mikroskope und Fernrohre entwickelt. Über seine weiße Marmorbüste fällt der goldene Schimmer einer Straßenlaterne, und ich bleibe unwillkürlich davor stehen und sehe ihm ins Gesicht. Er blickt freundlich, aber skeptisch zurück, kann mein Ausreißen natürlich nicht unterstützen, heißt mich aber dennoch willkommen in seiner Stadt. Von hier aus sind es nur noch wenige Meter.
Ich blicke an dem marmornen Stadtvater vorbei über den Platz, die Straße entlang, und da sehe ich es. Lenas Haus. Ich brauche keine Hausnummer, um zu erkennen, welches es ist. Das Licht ist da, oben im vierten Stock, das Licht, von dem ich weiß, dass es seit Wochen auf mich wartet. Ich bin am Ziel.
14
Die zarte alte Dame, die aus dem Haus kam, gerade als ich meine Hand nach dem Klingelknopf ausstrecken wollte, führte einen kleinen weißen Pudel an der Leine. »Willst du hier herein?«, fragte sie erstaunt.
Die Giehse! Völlig unerwartet schoss mir der Name durch den Kopf. Ja, das musste die strenge alte Dame sein, die im Hochparterre wohnte: Frau Giehse, die nie verheiratet gewesen war, aber immer einen kleinen weißen Pudel besaß. Alle ihre Hunde hießen Trudi. Komisch, dass ich mir das gemerkt hatte. Ich grüßte höflich und drückte mich an ihr vorbei, und Trudi die Vierte zog Frau Giehse auf den Grünstreifen gegenüber, während die Tür hinter mir ins Schloss fiel.
Der hohe Altbau, auf den ich über die Straße zugegangen war, sah genauso aus, wie Mami es beschrieben hatte. Er stand in einer Reihe mehrstöckiger Häuser, die wie unsere Straße in Eppendorf um die Jahrhundertwende erbaut worden waren, aber im Gegensatz zu meinem früheren Zuhause offenbar seit dieser Zeit keinen neuen Verputz mehr erhalten hatten. Auf der anderen Straßenseite hoben hohe Bäume ihre Äste über einen kleinen Bach, hinter dem die Mauer einer ehemaligen Fabrik emporragte. Eine schmale Fußgängerbrücke führte etwas oberhalb von Lenas Haus auf die andere Seite hinüber. Zwischen Fabrikmauer und Bach gab es dort einen schmalen Fußweg, auf dem man in wenigen Minuten in die Innenstadt gelangen konnte. Es war der Weg, den Mami jeden Morgen genommen hatte, um mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren. Sie hatte mir die Straße ihrer Kindheit so genau geschildert, dass ich aus dem Gedächtnis ein Bild davon hätte malen können.
Auch das Haus war mir seltsam vertraut. Hinter der breiten Eingangstür aus Holz, die Reste eines längst abgeplatzten grünen Anstrichs trug, führte ein überdachter Durchgang geradeaus zum Hinterhof und seitlich über eine offene Treppe vier Stockwerke hinauf zu den Wohnungen. In dem schmalen Gang zwischen Treppenaufgang und Hinterhof befanden sich die Postkästen, im Hausflur neben der Treppe hing eine Putzordnung. Ich konnte sehen, dass Lena am Tag zuvor das Treppenhaus geputzt und die Erfüllung ihrer Pflicht mit einem blauen Filzstift eingetragen hatte.
Im Treppenhaus gab es einen dekorativen schmiedeeisernen Aufzug, der mit einer breiten Kette zugesperrt war. Auch er sah ähnlich aus wie unser Aufzug zu Hause, war allerdings bereits seit über zwanzig Jahren wegen Absturzgefahr außer Betrieb. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu Fuß auf den Weg zu machen und mich mit letzter Kraft am Holzgeländer in den vierten Stock hinaufzuziehen. Zu spät fiel mir ein, dass ich unten hatte klingeln und meine Überraschung besser vorbereiten wollen. Aber den Plan hatte ich ohnehin aufgegeben; ich war vom Schleppen des schweren Rucksacks, von der ganzen Aufregung dieses Tages und von der Erleichterung, am Ziel zu sein, mittlerweile so erschöpft, dass ich befürchtete, Lena nicht
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