Lilly unter den Linden
Quartettspiel handelte. Es hieß »Sandmännchen und seine Freunde« und bildete unter anderem einen kleinen dunklen Kobold ab. Pittiplatsch.
»Weiß ich doch, Mensch«, erwiderte ich tapfer, obwohl mir der Schweiß ausbrach. »Den kennt doch jeder!«
Der Kleine nahm mir die Karte aus der Hand und kletterte enttäuscht auf seinen Sitz zurück. Der Ältere beugte sich zu seiner Mutter und raunte vernehmlich: »Die kennt Pittiplatsch nicht!«
Er warf mir einen misstrauischen Blick zu, doch die Mutter sagte nichts. Ich wandte mich wieder zum Fenster und blickte starr nach links hinaus. Ich bekam einen ganz steifen Nacken, weil ich mich nicht mehr zu bewegen wagte, aber niemand forschte nach. Ich war heilfroh und entspannte mich erst, nachdem die drei an der nächsten Station ausgestiegen waren.
Wie hätte ich auch auf den Gedanken kommen sollen, dass man hier sogar ein eigenes Sandmännchen hatte?
Doch die nächste Hürde näherte sich bereits. Von vorne arbeitete sich der Schaffner durchs Abteil und hielt mit jedem Reisenden ein kurzes Schwätzchen.
»Na, so janz alleene?« Freundlich sah er mich an.
Meine Finger waren so klamm, dass ich kaum die Fahrkarte aus der Hosentasche brachte. Dabei sah ich ihn mit der größtmöglichen Zuversicht an, die ich nach der Pleite mit dem Sandmann noch aufbringen konnte. »Nee«, sagte ich. »Das sieht nur so aus.«
Der Schaffner las die Fahrkarte, bevor er sie entwertete. Ängstlich starrte ich zu ihm auf. »Jena-Paradies?«, fragte er.
»Genau«, antwortete ich und betete stumm, es möge ihm auffallen, dass er von Ostberlin bis zur Zugmitte bereits zwanzig Minuten gebraucht hatte und besser anfing, sich zu beeilen, damit ihm keine Schwarzfahrer durch die Lappen gingen, falls es so etwas hier überhaupt gab. Und tatsächlich, er gab mir die Fahrkarte zurück, wünschte mir eine gute Reise und ging weiter, und der Kloß in meinem Hals schrumpfte innerhalb kürzester Zeit auf eine Größe zusammen, die mir das Schlucken wieder erlaubte.
Jan hatte wohl doch Recht gehabt: »Wenn sie drin ist, ist sie drin.« Nun konnte mir nichts mehr passieren, vorausgesetzt ich wurde nicht leichtsinnig und hielt mich von Kindern fern! Beruhigt streckte ich die Beine aus und rollte meinen Anorak am Fenster zusammen, um den Kopf anzulehnen und ein wenig zu dösen. Jetzt, wo die Gefahr vorbei war, merkte ich erst, wie müde ich war.
Es war später Nachmittag und ich malte mir schläfrig aus, was mich erwartete. Wenn alles klappte (und warum sollte es nicht?), würde ich pünktlich zum Weihnachtsessen in Jena ankommen. Ich würde an der Haustür klingeln, mit schweren Schritten vier Stockwerke zur Dachwohnung hinaufstapfen und dabei »Eilzustellung aus Hamburg!« nach oben rufen. Ich musste kichern, als ich mir Lenas Gesicht vorstellte. Ich hoffte, dass nicht stattdessen Onkel Rolf die Tür aufmachte, denn dann war der ganze Witz bestimmt dahin. Mein Onkel blickte auf allen Fotos, die ich von ihm kannte, so sorgenvoll drein, dass man beinahe selbst ganz melancholisch wurde. Wahrscheinlich gehörte er zu den Menschen, die Überraschungen nichts abgewinnen können. Natürlich war ich entschlossen, ihn dennoch zu lieben, aber den Gedanken an Onkel Rolf verdrängte ich erst einmal.
Zu dumm, dass keine Zeit mehr gewesen war, Geschenke für Katrin und Till zu besorgen, um sie dafür zu entschädigen, dass sie in Zukunft ihre Eltern mit mir würden teilen müssen. Ich nahm an, dass wir gleich nach den Weihnachtstagen miteinander zur Schule gehen würden. Darüber machte ich mir keine Sorgen, denn schon in ihrem eigenen Interesse würden sie mir helfen, dort nicht unangenehm aufzufallen. Da ich in Musik eine Zwei hatte, konnte ich während der Feiertage ja schon einmal damit anfangen, die sozialistischen Lieder zu lernen, die man hier meines Wissens singen musste. Meine Familie sollte sehen, dass ich zu allem bereit war, um ihnen keine Schande zu machen.
Die Eisenbahn klopfte rhythmisch über die Schienen: du-dumm, du-dumm, du-dumm. Draußen wurde es langsam dunkel. Ich merkte, wie mir die Augen zufielen. Ein-, zweimal kämpfte ich noch dagegen an, dann überließ ich mich dem seligen Schlaf der Vorfreude. Als Letztes sah ich Lena vor mir, die mich an einem tief verschneiten Bahnhof erwartete. Sie war in einem Rentierschlitten hergekommen, hob mich mit Leichtigkeit direkt aus dem Zugfenster und bettete mich zwischen kuschelig weiche Felle, die auf der Rückbank des Schlittens ausgebreitet waren. So
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