Lilly unter den Linden
dunklen Uniform, der Abschnittsbevollmächtigte Herr Ring. Herr Ring, der sich selbst gerade erst am familiären Weihnachtstisch niedergelassen hatte, als ihn der Anruf seiner Dienststelle ereilte, kam nicht umhin zu bemerken, wie wunderbar es bei den Wollmanns nach Weihnachtsbraten roch. Dann besann er sich auf seinen Auftrag und setzte hinzu: »Darf ich hereinkommen? Es geht um die Klärung eines Sachverhaltes.«
Lena trat beiseite, ließ Herrn Ring eintreten und rief: »Rolf, kommst du mal? Der ABV.«
Im Wohnzimmer senkte Katrin noch tiefer ihren Kopf und Till spitzte seine Ohren, während Onkel Rolf sich verwundert vom Tisch erhob.
Was konnte der für ihr Wohngebiet zuständige Polizist am Heiligabend von ihnen wollen?
Herr Ring kam sofort zur Sache: »Guten Abend, Herr Wollmann, es geht um Ihre Nichte in Hamburg. Eine Anfrage vom Bundesgrenzschutz.«
Er hielt einige Sekunden inne, um den Worten Zeit zu geben, ihre Wirkung zu entfalten. Herr und Frau Wollmann sahen ihn mit großen Augen an. Frau Wollmanns Lippen formten stumm die Silben: Bundesgrenz…
»Es sieht so aus, als sei die Kleine aus dem Internat ausgerückt. Die vermuten, zu Ihnen«, sagte Herr Ring streng.
»Zu uns?«, rief Lena. »Aber das geht doch gar nicht!«
»Wann hatten Sie das letzte Mal Kontakt zu Ihrer Nichte?«, fragte der ABV.
»Meine Frau war vor vier Wochen auf der Beerdigung ihrer Schwester in Hamburg«, erwiderte Onkel Rolf. »Ich selbst kenne das Kind gar nicht. Das scheint mir ein ziemlich vager Verdacht zu sein, Herr Ring.«
»Da könnten Sie Recht haben«, meinte der ABV. »Ein Kind aus dem Westen haut ab nach hier – wo gibt’s denn so was? Aber wir müssen der Sache natürlich nachgehen.«
»Seit wann ist sie denn weg?«, fragte Onkel Rolf und legte Lena beruhigend eine Hand auf die Schulter.
»Seit heute Morgen. Sie müsste also längst hier sein.« Herr Ring schüttelte den Kopf. »Na, wenn sie doch noch bei Ihnen auftauchen sollte … Sie wissen, was Sie zu tun haben. Ich melde mich, sobald ich etwas höre. Frohe Weihnachten!«
Er wandte sich zum Gehen, aber Lena erwachte plötzlich wieder zum Leben und hielt ihn auf. »Aber wenn sie wieder auftaucht … was passiert denn dann?«
»Na, Rückführung in die BRD natürlich«, meinte Herr Ring und fügte nach einem Blick in Lenas erschrockenes Gesicht hinzu: »Nun regen Sie sich mal nicht auf, Frau Wollmann. Das hat sich längst aufgeklärt, Sie werden sehen. Die sitzt bei Freunden im Partykeller … oder wo man im Westen so sitzt.«
»Vielen Dank«, sagte Onkel Rolf und schloss die Tür hinter ihm. »Vielen Dank, Herr Ring!«
Einige Sekunden standen sie stumm im Flur.
Dann kam auch schon Till angeschossen: »Die ist getürmt, Papa, wetten? Rein ist leichter als raus, das wissen alle! Was denkst du, wie hat sie’s gemacht?«
»Quatsch«, sagte Onkel Rolf.
Aber Lena schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und murmelte: »Ich bin ein solcher Idiot. Wie kann man nur so blind sein?«
Dabei war sie schon auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer. Onkel Rolf folgte ihr irritiert. »Lena, du glaubst doch nicht im Ernst, dass sie so etwas machen würde!«
»Und ob ich das glaube!«, erwiderte Lena und begann in ihrer Zettelschublade zu kramen.
»Sie ist doch noch ein Kind«, rief Onkel Rolf. »Wie soll das denn gehen?«
»Vielleicht gerade darum. Weil sie ein Kind ist und niemand so etwas erwartet.«
Lena fand ihr Adressbuch und begann hektisch zu blättern. Irgendwo hatte sie die neue Telefonnummer von Pascal notiert, aber leider fiel ihr in der Aufregung sein Nachname nicht mehr ein.
»Und wie stellst du dir das vor? Im Gepäcknetz der Reichsbahn? Bei Schleppern hinter Apfelsinenkisten?« Onkel Rolf warf einen Blick auf die hingerissene Miene seines Sohnes. »Jetzt hör aber auf«, sagte er ärgerlich zu Lena.
»Wie sie es gemacht hat, interessiert mich doch überhaupt nicht!«, antwortete diese. »Ich will wissen, wo sie ist, warum sie nicht hier ist! Ich will wissen, was da passiert ist!«
In diesem Augenblick brach Katrin in Tränen aus. Sie hatte die ganze Zeit vollkommen unbeachtet am Wohnzimmertisch gesessen, aber bei Lena machte es plötzlich schlagartig »klick«. Sie ließ ihr Adressbuch sinken. »Das vorhin«, sagte sie tonlos, »das war gar nicht die Giehse.«
Katrin schluchzte noch lauter. Lena stützte sich schwer auf Katrins Stuhllehne. »Das ist nicht wahr! Sag, dass das nicht wahr ist!«
»Doch«, schrie Katrin ihr ins
Weitere Kostenlose Bücher