Lilly unter den Linden
ohne zu heulen in die Arme fallen zu können. Ich hoffte, dass sich dies unterdrücken ließ, denn der unauslöschliche erste Eindruck, den Onkel Rolf, Katrin und Till von mir gewannen, sollte auf keinen Fall der einer Heulsuse sein. Mit diesen Sorgen – und keineswegs mit dem erwarteten Hochgefühl – klingelte ich endlich an der Tür der Dachgeschosswohnung. Dahinter verriet lautes Singen, dass ich tatsächlich noch pünktlich zur Weihnachtsfeier kam.
Das Singen ging weiter, aber mit einer Stimme weniger, und durch die Milchglasscheibe sah ich im Flur das Licht angehen. Eine schmale Gestalt mit Meggi-ähnlichen Wuschellocken machte sich kurz am Türschloss zu schaffen, und dann sah ich mich für ein paar Sekunden meiner Cousine Katrin gegenüber.
Es können nicht mehr als Sekunden gewesen sein. Ich sprach mein scheues: »Hallo, ich bin’s, Lilly!«, und da war die Tür auch schon wieder zu. Das Licht ging aus, erst im Wohnungsflur (wo eine Bewegung hinter der Milchglasscheibe verriet, dass Katrin noch auf der anderen Seite stand), dann im Hausflur hinter mir.
Ich war wie vom Donner gerührt. Manche Menschen sehen Blitze, wenn ihnen etwas Unfassbares widerfährt, an anderen zieht wie im Zeitraffer ihr bisheriges Leben vorüber. Ich stand bloß mit hängenden Armen da und begriff überhaupt nichts mehr. Dass ich nicht willkommen war, war ja deutlich genug. Doch der Weg vom Sehen zum Begreifen dauerte einfach etwas länger als der Blick in das kalte, misstrauische Mädchengesicht, dem ich gerade gegenübergestanden hatte.
Später erfuhr ich, was sich danach in der Wohnung abspielte. Katrin ging ganz cool ins Wohnzimmer zurück und auf Onkel Rolfs Frage, wer geklingelt habe, meinte sie nur: »Die Giehse. Wir haben zu laut gesungen.«
Ich war bereits wieder auf dem Weg nach unten. Ich konnte kaum glauben, was ich gerade erlebt hatte. Ich stand kurz davor, bei Frau Giehse und Trudi zu klingeln, nicht nur weil ich die beiden im Grunde ja auch schon lange kannte, sondern weil ich keine Ahnung hatte, wohin ich mich sonst wenden sollte. Es war Heiligabend und ich stand mutterseelenallein in der DDR, mit nichts als meinem Rucksack und ein wenig Geld in meinen Socken.
Aber Frau Giehse und Trudi waren noch nicht wieder zurück, und da ich es nicht riskieren wollte, hinter der abgeschlossenen Haustür zu stranden und in der kalten Nacht wie das Mädchen mit den Schwefelhölzchen zu enden, wandte ich mich erst einmal in Richtung Hinterhof. Es war, wie sich herausstellte, ein guter Entschluss. Das spärliche Licht im Hauseingang wies mir den Weg direkt zu meinem Zufluchtsort.
Denn in dem kleinen Hinterhof, auf halbem Wege zwischen Wäscheleinen und Fahrradständern, gab es ein Gartenhaus. Es war nicht einmal abgeschlossen. Hinter der knarrenden Tür suchte ich vergebens nach einem Lichtschalter, tastete mich dennoch hinein und stolperte auch sogleich eine Treppenstufe hinunter. Mit dem Rucksack auf dem Rücken rannte ich, dem Gesetz der Schwerkraft folgend, ungebremst vorwärts gegen ein Klavier, in dem ein melodisches Dong! widerhallte. Herzklopfend hielt ich den Atem an und lauschte, aber niemand schien es gehört zu haben. Mutiger geworden, setzte ich endlich meinen Rucksack ab und tastete mich weiter.
Meine Suche hatte ein Ende, nachdem ich auch noch über den Klavierhocker gefallen und auf einen Rollschuh getreten war. Ich fand an der Wand ein Sofa, warf mich darauf und ließ meinen Gefühlen endlich freien Lauf.
Nur wenige Meter entfernt trug Lena den duftenden Weihnachtsbraten auf. Das Wohnzimmer war festlich geschmückt, die Kerzen am Weihnachtsbaum brannten, selbst der Wellensittichkäfig war zur Feier des Tages mit einer roten Kugel und einem Tannenzweig verziert. Aus dem Radio klangen Bachkantaten, was Till nicht ohne zu klagen über sich ergehen ließ. Alles sah genauso aus, wie ich es mir immer vorgestellt hatte: warm, kuschelig und gemütlich. Nur ich saß statt im Schoße meiner Familie im Gartenhaus, fror und heulte.
Das Festessen begann und meiner Tante fiel auf, dass mit Katrin irgendetwas nicht stimmte. Bei der Bescherung war sie noch fröhlich und guter Dinge gewesen, doch nun stocherte sie blass und unlustig in ihrem Essen und Schweiß stand ihr auf der Stirn! Katrin wandte sich unwillig ab, als ihre Mutter prüfend die Hand nach ihr ausstreckte, aber Lena musste ohnehin aufstehen, weil es zum zweiten Mal an diesem Abend an der Wohnungstür klingelte.
Im Hausflur stand, korrekt in seiner
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