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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Gesicht.
    »Deine kleine Cousine schlägt sich hunderte Kilometer zu uns durch, und du sagst kein Wort?«, rief Lena fassungslos. »Wo ist sie jetzt?«
    »Weiß ich doch nicht!«, schrie Katrin.
    »Was soll das heißen?«, fragte Lena fast ebenso laut.
    »Ich hab doch nicht mit ihr gesprochen!«
    Lena donnerte: »Sondern?«
    »Ich hab die Tür wieder zugeknallt!«, heulte Katrin voller Trotz.
    Lena richtete sich auf. »Du hast die Tür wieder …«, flüsterte sie ungläubig. Dann holte sie aus und versetzte Katrin eine schallende Ohrfeige. »Zugeknallt?«, brüllte sie dabei.
    Katrin hörte auf zu schluchzen und hielt sich sprachlos die Wange, denn dies war die erste Ohrfeige ihres Lebens gewesen. Dann stürzte sie an Lena vorbei aus dem Zimmer.
    Onkel Rolf holte tief Luft und tobte: »Lena, in dieser Familie wird nicht geschlagen!«, aber auch Lena war bereits unterwegs in den Flur. »Wo willst du hin?«, rief mein Onkel.
    »Zum Bahnhof!«, erwiderte meine Tante und riss ihren Mantel vom Garderobenhaken.
    Das Gartenhaus hatte mittlerweile eine für meine Begriffe arktische Temperatur angenommen. Da ich keinen Lichtschalter gefunden hatte, konnte ich auch nicht feststellen, dass neben dem Sofa ein alter Kleiderschrank stand, in dem unter anderem ein Stapel klammer Decken lagerte. Stattdessen zog ich meinen Rucksack neben mich, begann im Dunkeln darin zu wühlen und förderte einige Pullover und ein Badetuch zu Tage, in die ich mich hüllen konnte. Dass meine Zähne trotzdem weiter klapperten, konnte nur damit zusammenhängen, dass ich auch von innen unterkühlt war und unter einem gewissen Schock stand.
    Passend dazu ging jetzt plötzlich ganz langsam und unter schauerlichem Knarren die Tür des Gartenhauses auf. Ich fühlte deutlich, wie sich meine Haare aufrichteten, und das selbst an Stellen, von denen ich nicht einmal gewusst hatte, dass ich dort Haare besaß! Eine Gestalt schob sich im Dunkeln herein und machte sich in der Nähe des Klaviers zu schaffen. Ich holte tief Luft, um vorbereitet zu sein auf einen lokomotivenähnlichen Schrei.
    Eine Tischlampe blitzte vom Klavier her auf und tauchte den Raum in ein schwaches gelbliches Licht. Im Schein der Lampe stand ein kleiner blonder Junge, der mich hingerissen anstarrte. »Mann, du hast Mut! Du bist wirklich ausgerissen!«, rief er entzückt.
    Dann kam er auf mich zu, so vorsichtig, wie man sich einem fremden Hund nähert, und beäugte mich neugierig. Ich begriff, dass ich es mit meinem Cousin Till zu tun hatte. Wie er mich allerdings gefunden hatte und woher er überhaupt von meiner Flucht wusste, war mir schleierhaft.
    Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und sagte: »Die wollten mich in eine Pflegefamilie stecken. Dass ich schon eine Familie habe, hat sie gar nicht interessiert. Bloß weil …«
    Till runzelte die Stirn. »Weil was?«, fragte er und kam noch ein Stückchen näher.
    Ich zögerte. Ich wollte ihn nicht damit kränken, dass Frau Gubler seine DDR für nicht gut genug befunden hatte, mich aufzunehmen. Vermutlich kannte er die Antwort trotzdem, denn als er mir zur Begrüßung seine Hand hinstreckte und ich sie ergriff, riss er sie sofort wieder zurück, krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht darüber und kreischte: »Aah! Ich hatte Feindberührung! Sanitäter!«
    Ich brauchte einen Augenblick, um mich von dem neuerlichen Schrecken zu erholen und zu erkennen, dass es sich um eine Art Witz handelte. Till begann unterdessen, meine überall verstreuten Sachen aufzusammeln und in den Rucksack zurückzustopfen. »Ich würde sagen, den konfisziere ich erst mal«, sagte er zufrieden. »Ansonsten können wir jetzt nach oben gehen.«
    »Das habe ich vorhin schon versucht«, gab ich zu bedenken.
    Till machte eine wegwerfende Handbewegung. »Mach dir nichts draus – Katrin spinnt! Die mag überhaupt niemanden, außer Papa vielleicht. Aber von ihr hast du nichts mehr zu befürchten. Mama hat ihr einen echten Schwinger verpasst! Sie hat sich auf dem Klo eingesperrt und kühlt ihre Backe.«
    »Und Lena?«, fragte ich besorgt.
    Till grinste. Er hatte dasselbe schelmische, breite Grinsen wie meine Tante und ich fühlte mich gleich ein wenig besser. »Alle suchen dich! Der ABV, der Bundesgrenzschutz, meine Eltern rasen durch die Stadt … das ist das beste Weihnachten, das ich je erlebt habe!«
    Auf dem Weg zum Haus erzählte er mir in wortreichem Flüstern, wie Onkel Rolf hinter Lena her zum Auto gelaufen war und wie die beiden das Letzte aus

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