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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ein Quatsch, dachte ich selbst im Traum.
    Die Wirklichkeit war weit weniger angenehm. Dabei hatte ich noch Glück: Ein paar Minuten vor meiner Endhaltestelle kam der Schaffner im Abteil vorbei und rüttelte mich leicht an der Schulter: »Wolltest du nicht in Jena aussteigen?«
    Ich riss die Augen auf und starrte aus dem Fenster in pechschwarze Finsternis. Im ersten Moment wusste ich überhaupt nicht, wo ich mich befand. In meinem Abteil brannte ein schwaches Licht, die meisten Fahrgäste waren schon an anderen Bahnhöfen ausgestiegen. Ich brauchte einige Augenblicke, um zu mir zu kommen. Dann fasste ich verstohlen nach meinem linken Fuß und fühlte die kratzigen Geldscheine, die Pascal mir in die Socken gesteckt hatte. Auch meinen Rucksack hatte niemand mitgehen lassen, während ich schlief. Ein Blick auf die Uhr: kurz nach sieben. Ich öffnete das Fenster und steckte den Kopf nach draußen. Die eiskalte klare Luft weckte mich fast sofort. Es hatte sogar aufgehört zu regnen.
    »Nu mach aber wieder zu. Hier fliecht man ja weg«, beschwerte sich eine weißhaarige Omi, die irgendwo unterwegs den Sitz der Pittiplatsch-Familie eingenommen hatte und sich schützend die Löckchen festhielt.
    Ich entschuldigte mich höflich und schob das Fenster wieder hoch. Ich spürte ihren Blick, als ich mit Mühe meinen Rucksack auflud. »Ich fahre zu meiner Oma«, sagte ich.
    Sie strahlte. Sollte etwas schief gehen, sollte ich auf dem Weg durch die Stadt auf mysteriöse Weise abhanden kommen und Pascal verzweifelt nach mir fahnden müssen, würde sie sich ganz bestimmt an mich erinnern.
    Wir rollten in den winzigen Bahnhof, der zu Füßen der Altstadt lag und verschämt den stolzen Namen der angrenzenden Parkanlage trug: Paradies. Heller Rauch stieg aus vielen Schornsteinen auf und hinterließ feine Spuren im schwarzblauen Nachthimmel. Mit mir stiegen drei weitere Leute aus anderen Abteilen aus dem Zug und steuerten den »Ausgang zur Stadt« an. Natürlich holte mich niemand ab. Also setzte ich mich in Bewegung und folgte unauffällig den anderen, als hätte ich schon mein Leben lang diesen Weg benutzt.
    Dabei schielte ich verstohlen nach dem riesigen roten Schild am Ausgang, das den Fahrgästen der Reichsbahn die Parole mit auf den Weg gab: »Alles für das Wohl des Volkes und für den Frieden!« War das ein Aufruf? Eine Reklametafel, deren Absender den Passanten so gut bekannt war, dass er nicht einmal seinen Namen nennen musste? War am Ende der Bahnhof gemeint? Mir war längst klar, dass ich trotz meiner guten Vorsätze und Mamis Geschichten nicht alles in der DDR auf Anhieb verstehen würde.
    Leider wurden alle anderen Fahrgäste vor dem Bahnhofsgebäude erwartet. Sie stiegen in drei Trabis und Wartburgs und surrten unter den brenzligen Gerüchen davon, die die Befeuerung ihrer Zweitaktermotoren hinterließ. Ich überquerte die Straßenbahnschienen, blieb auf dem einsamen Parkplatz zurück und sah mich vorsichtig um. Wie still und dunkel es war! Kleine Gaslaternen, die wie gemalt aussahen, beleuchteten die schmale Straße, die zwischen hohen Häusern bergan in die Altstadt führte. Irgendwo lief Wasser aus einer Regenrinne ab, Regenpfützen sammelten sich auf dem Kopfsteinpflaster. Mein Atem bildete kleine Wölkchen in der kalten Winterluft. Wieder kam ich mir vor, als hätte ich mich in einer Filmkulisse verlaufen, bloß schienen diesmal alle Schauspieler schon nach Hause gegangen zu sein. Nur ein leicht beißender Geruch nach Schornsteinqualm und Trabiauspuff hing in der Luft und wies darauf hin, dass es hier irgendwo Leben geben musste.
    Ich gab mir einen Ruck und marschierte dann tapfer los. Ich hoffte, dass der innere Stadtplan von Jena, den ich mir nach Mamis Erzählungen angelegt hatte, so gut funktionierte, wie ich es vor Pascal behauptet hatte.
    Wenn man irgendwo fremd ist, fallen einem Dinge auf, die man zu Hause gar nicht beachten würde. Ich bin sicher, bei uns im vornehmen Stadtteil Eppendorf war es abends genauso still wie hier, aber ich hatte nie darüber nachgedacht. Nun fand ich die Ruhe geradezu gespenstisch. Lange dunkle Abschnitte lagen zwischen den wenigen Straßenlaternen. Niemand begegnete mir, während ich von Licht zu Licht huschte. Als eine Katze mich aus einer Einfahrt begrüßte, blieb mir fast das Herz stehen.
    Ein einziges Auto fuhr vorbei, dessen Motor fremdartige, blecherne Geräusche von sich gab. Schritte scharrten auf dem Kopfsteinpflaster und warfen von schwarzen Hauswänden ein Echo zurück.

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