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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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dabei Tränen die Wangen herunterliefen, konnte er zum Glück nicht erkennen. Niemand sollte denken, dass ich nicht froh war über das, was ich tat. Aber erst Meggi und jetzt Pascal, das war zu viel für einen einzigen Tag! Als der Bahnhof schon längst von der Dunkelheit des grauen Wintertages verschluckt war, stand ich immer noch am Zugfenster und ließ den Regen meine Tränen abwischen.
    Auf der Sitzbank mir gegenüber hatte, während ich am Fenster stand, ein Mann mittleren Alters Platz genommen und seine Zeitung entfaltet. Er beachtete mich nicht weiter, aber die Vorstellung, ihm so dicht gegenübersitzen zu müssen, war mir mit einem Mal so unheimlich, dass ich meinen Rucksack in beide Hände nahm und – ihn mühsam vor mir herstoßend – im Zug weiterlief. Drei Wagen weiter fand ich einen Viererplatz, wo ich alleine sitzen und dabei die sagenumwobenen DDR-Bürger erst einmal vorsichtig aus einiger Ferne beäugen konnte.
    Direkt hinter meiner Rückenlehne hörte ich einen jungen Soldaten schnarchen. Er hatte den Kopf auf sein Gepäckbündel gelegt und war vermutlich auf dem Weg in den Weihnachtsurlaub, zumindest aber völlig blind und taub für das Geschehen im Abteil. Mit seinem halb offenen Mund, dem leise, pfeifende Laute entwichen, hatte er nicht gerade gefährlich ausgesehen. So hatte ich nur ganz kurz gezögert, den freien Platz hinter ihm zu besetzen. Kühn kletterte ich über seine in den Gang ragenden großen Füße, setzte mich und verlieh meinem Gesicht einen leicht gelangweilten Ausdruck, während ich halb geradeaus aus dem Fenster blickte. Dies schien mir die beste Taktik zu sein, um mich unsichtbar zu machen. Ein halbes, aber waches Auge ließ ich dabei immer wieder verstohlen über meine Mitpassagiere schweifen.
    Grund zur Besorgnis schien nicht zu bestehen. »Alles im grünen Bereich«, hätte Pascal gesagt. Hinter der gegenüberliegenden Sitzbank scharrten Füße und raschelten Zeitungen. Neben mir, auf der anderen Seite des Gangs, verteilte eine Mutter Kekse und Spielkarten an zwei kleine Jungen, schräg gegenüber war zwischen großen Einkaufstaschen eine ältere Frau in eine angeregte Unterhaltung mit ihrem Mann vertieft. Von ihm konnte ich nur die Schulter, einen Arm und eine Hand sehen, die neben ihm auf einem Hut lag und ab und zu darauf klopfte, um eine Aussage zu unterstreichen. Alle waren mit sich selbst beschäftigt, niemand sah zu mir hinüber. Dass ich aus dem anderen Teil der Welt kam, sah man mir ebenso wenig an, wie diese Leute an einem Winternachmittag in einem Nahverkehrszug bei uns in der BRD aufgefallen wären.
    Und mehr noch: An den Wortfetzen, die zu mir drangen, erkannte ich, dass die junge Mutter und ihre Kinder Berlinerisch redeten, das ältere Ehepaar aber den weichen Dialekt des Thüringer Beckens sprach, der trotz der fünfzehn Jahre in Hamburg auch bei Mami ab und zu noch durchgeklungen war und bei Lena sowieso. Verständigungsprobleme würden mir – ganz anders als bei einem Gespräch mit manchen Hessen, Bayern oder Schwaben – hier nicht im Wege stehen. Dabei waren diese meine Landsleute, jene aber nicht! Genussvoll spitzte ich die Ohren und hörte zu, wie die beiden alten Leute sich über ihr Enkelkind freuten, das zum ersten Mal Weihnachten erleben würde.
    Dass ich eigentlich nur unauffällig aus dem Fenster hatte blicken wollen, vergaß ich derweil völlig. Noch keine Viertelstunde saß ich in diesem Zug und schon kam es mir vor, als gehörte ich dazu!
    Der kleinere der beiden Jungen auf dem Nachbarplatz schien dies ebenso zu empfinden. Plötzlich rutschte er von seinem Sitz, kam freimütig zu mir hinüber und drückte mir strahlend eine Spielkarte in die Hand. »Pittiplatsch!«, forderte er mich auf.
    Ich lief rot an und sah Hilfe suchend zu seiner Mutter hinüber. Sie lächelte mich freundlich an. »Pittiplatsch!«, drängte der Junge und schubste mich am Knie.
    Was in aller Welt sollte ich darauf antworten? Von diesem Spiel hatte ich noch nie gehört! Endlose Sekunden verstrichen. Irrte ich mich oder sah ich die junge Mutter die Brauen hochziehen? Blickte sich das ältere Ehepaar nach mir um, hörte gar der junge Soldat auf zu schnarchen?
    Endlich kam mir ein rettender Gedanke: Ich erwiderte den leichten Schlag, den der Junge mir zuvor versetzt hatte. »Pitti platsch !«, erklärte ich mutig.
    »Das ist der Pittiplatsch«, sagte der ältere Junge knapp und hielt seine Spielkarten hoch, und jetzt sah auch ich, dass es sich um ein ganz gewöhnliches

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