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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ihrem altersschwachen Wartburg herausgeholt hatten. Offenbar vermuteten sie, dass ich zum Bahnhof zurückgefahren war und dort verzweifelt und frierend auf eine Fahrt nach Hause wartete. Till malte uns farbenfroh aus, wie sie jetzt kreuz und quer durch die Stadt röhrten , weil Jena drei Bahnhöfe besaß. Er, Till, habe sich gleich gedacht: »Bahnhof, so ein Quatsch! Die fährt doch nicht wieder nach Hause. Die verkriecht sich irgendwo, bis die Luft rein ist!«
    Er hielt mich am Ärmel fest, als Motorengeräusche näher kamen. Wir waren schon fast bei der Treppe angekommen, aber stattdessen zerrte Till mich eilig in den Schutz des Hinterhofs zurück.
    »Was ist denn?«, wisperte ich ängstlich.
    »Psst! Dich darf hier niemand sehen!«, zischelte er aufgeregt zurück.
    Wir lauschten hinter der Hauswand. Schritte näherten sich, dann eine ungeduldige Männerstimme: »Es ist Heiligabend. Es ist nach neun Uhr. Wen willst du denn da noch erreichen?«
    Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. »Irgendjemand muss doch zuständig sein. Ich sitze doch jetzt nicht zu Hause herum und warte!«, entgegnete eine energische Frauenstimme, und mein Herz tat einen kleinen Sprung. Lena!
    Till hielt mich immer noch hinter der Hausmauer in Schach, aber er selbst riskierte einen vorsichtigen Blick und zischte: »Psst! Papa!«
    Es wurde still. Ein großer Moment für meinen etwa einen Kopf kleineren Cousin, der jetzt einen Schritt in den Hauseingang tat und mich triumphierend hinter sich herzog.
    Die Wirkung dieser Präsentation war umwerfend. Auf halbem Wege zwischen Haustür und Treppenaufgang standen zwei Salzsäulen. Die eine, Onkel Rolf, zwinkerte noch ungläubig, die andere, Lena, war überhaupt nicht in der Lage, sich zu rühren. Sie stand einfach nur da, hielt sich an Onkel Rolfs Arm fest und starrte mich an. Diese Begrüßung hatte ich mir auch anders vorgestellt. Ich ließ den Rucksack fallen und ging langsam auf sie zu. Ja, das war Lena. Seit Wochen hatte ich von ihr geträumt, hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um zu ihr zu gelangen. Und nun stand ich direkt vor ihr und konnte nicht erkennen, ob sie sich freute, mich zu sehen.
    »Ich bin da!«, sagte ich schließlich ratlos.
    Lena ließ Onkel Rolfs Arm so vorsichtig los, als wolle sie erst einmal ausprobieren, ob sie überhaupt alleine stehen konnte. »Oh Lilly«, sagte sie schwach und nahm mich in den Arm. Ich drückte sie aufmunternd. Ich bin da, ich bin da!, wiederholte ich für mich selbst und wartete vergebens darauf, dass sich ein befreiender Jubel in mir ausbreitete.
    Lena ließ mich wieder los. »Das ist dein Onkel Rolf«, stellte sie vor.
    Onkel Rolf tat einen Schritt auf mich zu und gab sich alle Mühe, ein zuversichtliches Gesicht zu machen. Er war nicht viel größer als Lena, hatte dunkles, schütteres Haar und auf seiner hohen Denkerstirn hatten sich einige tiefe Sorgenfalten bereits dauerhaft eingebrannt. Wenigstens er reagierte so, wie ich es erwartet hatte. Allerdings lag zu meiner Überraschung überhaupt nichts Strenges in seinem Blick; er hatte ein feines, empfindsames Gesicht und die freundlichsten braunen Augen, die ich je gesehen hatte. Etwas wie Anteilnahme stand darin. Ich hatte das sonderbare Gefühl, dass ausgerechnet Onkel Rolf als Einziger ganz genau wusste, wie mir zu Mute war.
    Ich war so erleichtert, dass ich ihn einfach umarmte. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Ich fühlte, wie er mir verlegen auf den Rücken klopfte, bis ich ihn endlich wieder losließ.
    Das war sie also, meine Familie. Eine unter Schock stehende Tante, eine Quasselstrippe von Cousin, ein lieber, aber gehemmter Onkel und der biestige Lockenkopf, der sich oben im Bad eingesperrt hatte.
    »Das kann ja heiter werden«, sagte Till und sprach damit aus, was auch ich dachte.

15
    Sie saßen mir staunend gegenüber, während ich mir den Weihnachtsbraten schmecken ließ. Ich hatte plötzlich einen Bärenhunger. Seit dem Abschiedswürstchen mit Pascal waren über sechs Stunden vergangen, und zudem waren Braten und Soße wunderbar gelungen. Es störte überhaupt nicht, dass sie fast kalt waren.
    An dem Zustand des herumstehenden Geschirrs konnte man erkennen, dass die Familie überstürzt vom Tisch aufgebrochen war und keiner von ihnen viel von diesem guten Essen gehabt hatte. »Schmeckt prima«, sagte ich. »Habt ihr keinen Hunger mehr?«
    Niemand antwortete. Immerhin kehrte auf Lenas Wangen mittlerweile die Farbe zurück und ich lächelte sie so strahlend an, wie es mir

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