Lilly unter den Linden
mit vollen Backen möglich war. Sie schüttelte leicht den Kopf, aber in ihren Augenwinkeln erschienen einige tiefe Lachfältchen.
»Konferenz, Lena«, sagte Onkel Rolf, tippte ihr kurz auf die Schulter und verließ den Raum.
Lena erhob sich und folgte ihm. »Was hat er denn?«, fragte ich mit vollem Mund.
»Sorgen hat er«, antwortete Till sofort. »Du hast doch kein Visum. Und wenn es herauskommt, dass du hier bist, ist der Teufel los.«
Ich kaute und schluckte und fragte verblüfft: »Ich dachte, wenn ich erst über die Grenze bin, ist alles klar.«
»Darf bei euch denn jeder rein?«
»Nein …«
»Siehste.«
Ich sah Till betreten an. »Und jetzt?«
Wir lauschten. Ich hatte gehört, dass Lena zwei Türen hinter sich geschlossen hatte, trotzdem drangen noch einige Wortfetzen zu uns.
Onkel Rolf rief: »Niemals! Mit der Staatssicherheit will ich nichts zu tun haben!«, und Lena antwortete: »Hast du einen besseren Vorschlag?«
»Kriegt ihr meinetwegen Ärger?«, fragte ich bestürzt.
»Psst!«, machte Till. Wir horchten angestrengt, aber die beiden hatten ihre Stimmen gesenkt. »Ich wette, sie fahren zu Bernd Hillmer«, sagte Till. »Er hat uns schon mal geholfen.«
»Bernd Hillmer? Das ist doch der …«
Ich brach ab und überlegte, wie ich taktvoll formulieren sollte: der, den Lena fast geheiratet hätte. Aber etwas in Tills Blick hielt mich zurück. Seine Augen waren schmaler geworden, als wollte er sagen: Vorsicht.
Du meine Güte, so schlimm ist das doch auch wieder nicht, dachte ich und wunderte mich, hielt aber den Mund. Dass Till mit dem Namen Bernd Hillmer auch andere familiengeschichtliche Ereignisse verband, konnte ich damals ja noch nicht wissen.
Dann hörten wir eine Tür auffliegen und gleich darauf Lenas Stimme: »Wenn du nicht gehst, gehe ich!«
An der Flurgarderobe schien ein kurzer Kampf zu entbrennen, dann vernahmen wir Onkel Rolf: »Das fehlte gerade noch. Lass deinen Mantel hängen, ich gehe ja schon. Es ist dir offenbar völlig egal, in welche Situation du mich bringst, aber bitte. Tauche ich eben nach zwölf Jahren wieder bei ihm auf! Das wird ihm ungemein gefallen!« Die Wohnungstür fiel ins Schloss.
Till und ich sahen uns an. »Au Backe«, murmelte Till.
Ich legte Messer und Gabel hin. Plötzlich war mir der Appetit vergangen. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass Überläufer aus der Bundesrepublik in der DDR nicht mit offenen Armen empfangen wurden. Beinahe hätte ich gerufen: »Moment mal! Ich komme aus dem Westen – freiwillig! Warum freut ihr euch denn nicht?«
Lena kam wieder ins Zimmer – aufrecht und entschlossen, geradezu einige Zentimeter größer. Offenbar hatte der Disput mit Onkel Rolf Energie und Tatkraft geweckt. »Jetzt schieß mal los«, sagte sie und setzte sich zu mir. »Wie hast du das gemacht?«
»Jemand hat mich nach Berlin mitgenommen«, erwiderte ich vorsichtig. »Von dort aus war es ganz leicht.«
»Pascal?«, fragte Lena.
Als ich nicht antwortete, stützte sie einen Augenblick den Kopf in beide Hände. »Lilly, ist dir klar, dass er einen Riesenärger bekommen wird?«
»Kann gar nicht sein!«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. »Wir haben ein fremdes Auto benutzt, und in ein paar Stunden fliegt er schon nach Acapulco!«
Ich sah von Lena zu Till. Auch er blickte recht ernst drein. »Ihr seid doch meine Familie!«, rief ich. »Wenn ich nur einen Tag länger gewartet hätte, wäre ich schon bei den Bertrams, und da wäre ich so schnell nicht wieder rausgekommen!«
»Die wollen sie in eine Pflegefamilie stecken«, erklärte Till seiner Mutter.
»In Eppendorf!«, rief ich. »Ich müsste wieder in meine alte Schule, wo mich jeder von früher kennt. Dabei ist das doch …« Ich stockte einen Moment und setzte dann leise hinzu: »Das war doch früher. Das ist doch längst vorbei. Ich habe doch wieder eine neue Freundin.«
Lena strich mir über die Wange. »Ist schon gut, Lilly«, sagte sie. »Wir kennen jemanden bei der Staatssicherheit. Es findet sich bestimmt eine Lösung.«
»Muss sie bei Katrin schlafen?«, fragte Till mitfühlend.
Ich sah Lena besorgt an.
»Da wir nicht über den Luxus eines Gästezimmers verfügen, kann ich es ihr leider nicht ersparen«, meinte Lena und lächelte. »Aber unsere unerschrockene Lilly wird sich dadurch ganz bestimmt nicht beirren lassen, nicht wahr?«
Ich hielt mich so lange wie möglich im Badezimmer auf. Es lag Katrins Zimmer gegenüber und ich konnte zuhören, wie Lena
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