Lilly unter den Linden
und das Letzte, was ich mitbekam, war, dass die Standuhr im Wohnzimmer ein Uhr schlug. Onkel Rolf war noch immer nicht zurück.
Ich erwachte im Dunkeln. Direkt neben mir klapperte eine Ofentür. »Lena?«, wisperte ich noch halb im Schlaf. »Was machst du denn da?«
»Schlaf noch ein Stündchen«, flüsterte meine Tante zurück. »Gleich wird’s warm.«
Ich beobachtete, wie sie den kleinen Kohleofen befeuerte, der in der Zimmerecke neben meinem Bett stand. Sie legte Holz nach und hielt Zeitungspapier an die Briketts, die noch vom Vorabend glühten. Katrin war das morgendliche Geräusch offenbar so vertraut, dass sie nicht einmal aufwachte, obwohl die massive Ofenklappe laut schepperte und in ihren Angeln quietschte.
»Wie spät ist es?«, fragte ich leise.
»Kurz nach halb acht.«
Lena strich mir im Hinausgehen übers Haar und nahm den Rest der Zeitung mit, um ihre Runde in Tills Zimmer, im Wohnzimmer und im Bad fortzusetzen, bevor auch sie wieder ins Bett schlüpfte.
Als ich anderthalb Stunden später aufstand, war die Wohnung mollig warm und roch gut. Katrin lag noch im Bett, sie hatte wieder ihr Buch vor der Nase und schien abzuwarten, bis ich als Erste das Zimmer verließ. Vielleicht wollte sie in der Zwischenzeit den Inhalt meines Rucksacks inspizieren. Von mir aus, dachte ich, nahm meinen Kulturbeutel und tappte durch den Flur ins Bad. Aus der Küche klang bereits das muntere Geplapper meines Cousins, der sich mit dem Wellensittich unterhielt.
Wenig später war ich zurück und mein Rucksack lag noch genauso da, wie ich ihn verlassen hatte. Offensichtlich wollte Katrin meine Anwesenheit nicht einmal heimlich zur Kenntnis nehmen. Während ich mein Bett machte, ging sie wortlos hinaus.
Ich nutzte die Gelegenheit, um Katrins Andenkensammlung im Fensterregal zu betrachten. Sie schien eine Sportskanone zu sein, hatte Medaillen und Urkunden gewonnen und mehrere Fotos zeigten sie mit anderen athletischen Mädchen in Badeanzügen. Muscheln und getrocknete Seesterne waren dazwischen verstaubt. Auf einer bunten Tasse stand: FDGB-Ferienheim Frohsinn, Usedom.
Ich fragte mich, was aus Mamis Andenken geworden war, die einmal in diesem Regal gestanden hatten. Vielleicht hatte Lena sie sogar aufbewahrt. Ich musste sie unbedingt danach fragen.
Dann schweifte mein Blick aus dem Fenster und fiel auf das Bild, das auch meine Mutter fast zwanzig Jahre lang vor Augen gehabt hatte, wenn sie morgens aufstand! Der schmale Bach, die Bäume, die helle Fabrikmauer hinter winterlich kahlen Ästen und Zweigen … Ich konnte nicht anders, ich musste einfach das Fenster öffnen und mich weit hinauslehnen. Draußen schien zaghaft die Sonne durch letzte Nebelschleier, und nachdem der Vortag hüben wie drüben grau und verregnet gewesen war, versprach der erste Weihnachtstag helles und freundliches Wetter. Auf der anderen Bachseite trotzten zwei kleine Jungen der frühmorgendlichen Kälte und probierten ihr Weihnachtsgeschenk aus, ein großes Plastikboot, das sie vorsorglich an eine Schnur gebunden hatten, damit es ihnen nicht davonschwamm. Ich konnte sogar Frau Giehse erkennen, die Trudi dafür lobte, dass sie gerade ein Häufchen auf die Wiese gesetzt hatte …
Im gleichen Moment wurde ich auch schon grob beiseite gestoßen. »Was glaubst du, wofür wir hier heizen?«, herrschte Katrin mich an und knallte das Fenster wieder zu.
Das waren die ersten Worte, die sie an mich richtete, und es sollten vorläufig auch die letzten bleiben. Sie wandte sich ab, schüttelte und schlug heftig ihr Kopfkissen aus und würdigte mich keines Blickes mehr.
Ich stand noch einige Zeit ziemlich dumm herum. Ich konnte mir auf Katrins Verhalten einfach keinen Reim machen. Dass es nichts mit mir zu tun haben sollte, konnte ich Lena nur schwer glauben, aber was hatte ich Katrin denn bloß getan?
Schließlich gab ich mir einen Ruck und ging in die Küche, wo Lena gut gelaunt und summend Kaffee durch den Filter goss. Die Küche war klein, ein Sammelsurium nostalgisch anmutender Elektrogeräte und zerkratzter Holzschränke, mit Grünpflanzen in bunten Töpfen und der Gunst warmer Morgensonne, die das Ensemble in ein sanftes rötliches Licht tauchte. Am schönsten waren die vielen Kinderzeichnungen, Postkartenandenken und Familienfotos, die kreuz und quer eine ganze Wand bedeckten. Auch von mir waren einige Aufnahmen dabei.
Ein Foto zeigte mich im Alter von drei oder vier Jahren und hing bestimmt schon seit damals dort, denn es war schon ganz
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