Lilly unter den Linden
schimpfte: »Es ist Weihnachten, verdammt noch mal! Haben wir denn auch keinen Platz in der Herberge?« Polternd und quietschend wurden Möbel beiseite geschoben, um das Gästesofa auszuklappen, das sich ausgerechnet in Katrins Zimmer befand. Ich konnte mir an zehn Fingern ausrechnen, dass Katrin keine Hand dabei rührte.
Ich drehte den Hahn wieder auf und ließ Wasser ins Becken platschen, um den Anschein zu erwecken, dass ich immer noch beschäftigt war. Dabei hatte ich mir schon zweimal die Zähne geputzt, die Füße und den Hals gewaschen und sogar die Ohren einer intensiven Spülung unterzogen. Eigentlich hatte ich die Badewanne voll laufen lassen wollen, um Zeit zu schinden. Aber als ich an dem zierlichen Hahn drehte, kam nur ein winziger kalter Strahl heraus, sodass ich es gleich aufgab.
Das Badezimmer war ein langer Schlauch mit einem lukenähnlichen Fenster am äußersten Ende über der Toilette, die mit einem Vorhang abgetrennt war. Ich vermutete (zu Recht), dass morgens mehrere Leute gleichzeitig das Bad benutzen mussten. Auf der schmalen Konsole vor dem Spiegel standen vier Zahnputzbecher, über die hinweg ich in den recht kleinen Spiegel nur blicken konnte, indem ich mich auf ein Fußbänkchen stellte, das ich unter dem Waschbecken fand. Eine zierliche Badewanne stand auf vier Füßen; duschen musste man darin wohl im Sitzen. An der Wand über der Wanne hing ein großer weißer Kasten, den ich zunächst für einen überdimensionalen Seifenspender hielt, später aber als Heißwasserboiler identifizierte.
Ich sah mir alles so genau an, als müsste ich es für ein Ratespiel auswendig lernen. Erst als Lena an die Tür klopfte und leise fragte: »Lilly, ist alles in Ordnung?«, wagte ich den Riegel zurückzuschieben und in den Flur zu treten. Ich trug meinen Tigerentenschlafanzug und gab mir Mühe, ein gelassenes, unerschrockenes Gesicht zu machen. Die Folge war, dass Lenas Augen feucht wurden. Zum ersten Mal an diesem Abend nahm sie mich richtig in den Arm und drückte mich lange an sich. »Sie meint es nicht so«, flüsterte sie dabei. »Es geht auch eigentlich gegen mich und hat mit dir gar nichts zu tun.«
Mit diesem schwachen Trost führte sie mich in Katrins Zimmer. Meine Cousine lag bereits im Bett, las im Licht ihrer Nachttischlampe ein Buch und tat, als wäre ich überhaupt nicht da. Ihr Bett stand an der einen Wand, meins gegenüber. Ich stieg vorsichtig in die eiskalten Laken und ließ mich von Lena zudecken. Sie gab mir einen Gutenachtkuss und ich hätte sie gern umarmt, wagte es aber wegen Katrin nicht. Lena ging auch zu Katrins Bett hinüber, um ihr gute Nacht zu wünschen, doch Katrin drehte sich blitzschnell um und wandte ihr den Rücken zu. Lena legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, bevor sie nach einem letzten aufmunternden Blick auf mich hinausging.
Ich blieb liegen und ließ die Augen schweifen, möglichst ohne mich zu bewegen. Katrins Nachttischlampe warf Schatten über einen Schreibtisch, einen schmalen Kleiderschrank, Poster mir unbekannter Popstars. Eine Gitarre lehnte am Bücherregal, einige Grünpflanzen darbten auf dem Fensterbrett. Das Zimmer hatte zwei Fenster mit einem in die Wand eingelassenen schmalen Regal dazwischen, auf dem Katrin Fotos und kleine Andenken aufgestellt hatte.
Wie die Vorbesitzerin dieses Zimmers. Mein Herz stockte, als mir bewusst wurde, dass ich mich in Mamis altem Zimmer befand.
Das Regal zwischen den Fenstern gab es in keinem anderen Raum der Wohnung, und Mami hatte genau wie Katrin ihre Andenken dort aufbewahrt. Auch ihr Schreibtisch hatte am Fenster gestanden, sodass sie daran sitzen und in die breiten Kronen der Kastanienbäume schauen konnte. Eine volle Minute war ich nicht im Stande zu atmen. Mein ganzer Körper schmerzte. Ich war hier, ich hatte es geschafft – doch Mami war nicht mehr da.
Ob sie mich jetzt sehen konnte? Ich versuchte mir vorzustellen, dass sie ihre Hand über mich hielt und dass mir nichts geschehen konnte, dass auch Katrins feindseliges Verhalten mir nichts würde anhaben können. Vorsichtig riskierte ich einen Blick und entdeckte, dass meine Cousine mich aus schmalen Augen beobachtete. Schnell streckte sie eine Hand nach der Nachttischlampe aus und löschte das Licht. Ich hörte, wie sie im Dunkeln ihr Buch weglegte.
Nach einer Weile verrieten mir ihre gleichmäßigen Atemzüge, dass sie eingeschlafen war. Ich selbst lag noch lange wach, mir wollte einfach nicht warm werden. Irgendwann schlief ich aber doch ein,
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