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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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aus dem Fernsehen; ich fragte mich, warum sein Bild hier an der Wand hing, ob es vielleicht gar sein Büro war, in dem wir warten mussten. Vielleicht war meine Tat von so ungeheurer Tragweite, dass die höchsten Persönlichkeiten des Landes sich damit beschäftigen mussten!
    Meine Erleichterung war riesengroß, als ein jüngerer Mann zu uns stieß, den ich noch nie zuvor gesehen hatte und der, abgesehen von einigen Rangabzeichen an der Schulter, auch nicht übermäßig wichtig aussah.
    »Das Überschreiten der Grenze in unsere Richtung scheint ja groß in Mode zu kommen«, bemerkte er. »Selbst der belgischen Botschaft wurde eine Gruppe jugendlicher Ausreißer übergeben. Ist es der Nervenkitzel? Übt unsere Ordnung einen solchen Reiz auf euch aus?«
    Er blieb vor dem Schreibtisch stehen und fixierte mich. »Vielleicht kannst du mir etwas dazu sagen?«
    »Ich wollte zu meiner Familie, das ist alles«, sagte ich eingeschüchtert.
    Der Uniformierte (Onkel Rolf sagte mir später, dass es ein Unterleutnant war) nahm uns gegenüber Platz und legte einige Papiere umgedreht vor sich auf den Tisch. »Du musst zugeben«, fuhr er fort, »dass die Republikflucht deiner Mutter erhebliche Probleme nach sich gezogen hat – bis dahin, dass du jetzt nicht ohne weiteres zurück zu deiner Familie kannst. Das zeigt doch wohl, dass es richtig wäre, wenn ein jeder die Grenzen seines Landes respektieren würde.«
    »Sie meinen, wenn jeder in seinem Land bliebe?«, fragte ich unsicher.
    »Genau!«, antwortete der Unterleutnant.
    Ich warf einen Hilfe suchenden Blick auf meinen Onkel. »Ich glaube, dass die Frage des Landes für Lilly weniger entscheidend ist«, sprang dieser mir bei. »Ihr geht es …«
    Der Unterleutnant unterbrach ihn ein wenig gereizt. »Es ist mir durchaus klar, worum es Ihrer Nichte geht. Ich habe auch durchaus Sympathie dafür. Aber ich halte es für unerlässlich, in ihr ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass es nicht selbstverständlich ist, dass wir sie nach einer Grenzverletzung mit einem Besuchervisum ausstatten!«
    »Das ist klar!«, murmelte Onkel Rolf.
    »Besuchervisum?«, wiederholte ich. »Das klingt ja, als müsste ich wieder zurück.«
    Der Unterleutnant zog die Brauen hoch und meinte: »Natürlich musst du wieder zurück. Was glaubst du denn, was in deinem Land losgeht, wenn wir dich einfach hier behalten?«
    Ich glaubte mich verhört zu haben. Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber es kam kein Ton heraus. »Das muss schon alles den offiziellen Weg gehen, Lilly«, sagte Onkel Rolf.
    »In Absprache mit der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik und dem gesetzlichen Vormund, dem Jugendamt der Stadt Hamburg«, sprach der Unterleutnant. Er drehte die vor ihm liegenden Papiere um und grinste freudlos. »Die in diesem Fall ausnahmsweise mal nicht an Öffentlichkeit interessiert sind. Ja, Sie können sich freuen, dank des persönlichen Eintretens von Oberleutnant Hillmer ist alles einvernehmlich geregelt. Die Besuchserlaubnis erlischt am 2. Januar. «
    Onkel Rolf beugte sich vor. »Eine Woche? Mehr nicht?«, fragte er erschrocken.
    Der Unterleutnant kniff streng die Augen zusammen. »Was heißt denn hier, mehr nicht? Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass das ein beträchtliches Entgegenkommen ist.«
    »Natürlich«, versicherte Onkel Rolf hastig. »Es ist nur … wir hatten mit etwas mehr Zeit gerechnet, um unsere innerfamiliären Angelegenheiten zu klären. Aber sicher, es geht auch so. Eine Woche – immerhin!«
    Später erzählten sie mir, dass sie es die ganze Zeit schon gewusst hatten, Lena und Onkel Rolf: Mehr als eine Besuchserlaubnis hatte Onkel Rolf in der Weihnachtsnacht nicht erwirken können. Meggis und Pascals Hilfe, die überstandenen Gefahren, all die Hoffnungen, Träume und Pläne der vergangenen Wochen … alles war umsonst gewesen.

19
    Von meinem Platz am Fenster sah ich den Tag verstreichen. Zu den kleinen Jungen mit dem Plastikboot waren noch andere Kinder gestoßen, die sich auf dem Grasstreifen am Bach vergnügten, bis sie zum Mittagessen hereingerufen wurden und sich auf die umliegenden Häuser verteilten. Trudi, der Pudel, kam ebenfalls alle zwei, drei Stunden mit seinem Frauchen heraus, um der Wiese ein kleines Geschäft anzuvertrauen. Durch die Äste und Zweige tauchten ab und zu Farbflecken auf: Leute, die den Fußweg auf der anderen Bachseite benutzten. Till und sein Freund Frieder kamen auf ihren Fahrrädern und hielten, im Sattel sitzend, vor dem Haus

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