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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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standhalten.
    Onkel Rolf goss sich Kaffee nach. »Hätte ich euch besuchen können oder nicht?«, überlegte er. »Ich hätte – andererseits auch wieder nicht. Es gibt im Leben nicht nur ja und nein.«
    »Mami war ganz allein, als sie starb«, sagte ich mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Und du warst jedes Jahr im Westen und hast nicht ein einziges Mal nach ihr gesehen!«
    »Es tut mir Leid, Lilly, aber so einfach war das nicht.«
    »Pah!«, machte ich geringschätzig.
    Onkel Rolf überging meinen respektlosen Ton und fuhr fort, als hätte ich nichts gesagt: »Einmal haben wir uns getroffen, deine Mutter und ich. Das muss vor acht, neun Jahren gewesen sein, als wir dachten, die Situation hätte sich etwas entschärft. Sie hat mich vom Messestand abgeholt, wir waren zusammen im Bistro … und eine Woche später hatte ich eine kleine Unterredung. Einer meiner Kollegen muss mich verpfiffen haben.«
    Er nippte bedächtig an seinem Kaffee. Ich ließ mein Pappbrot sinken. Mein Zorn wich bereits und machte der seltsamen Vorahnung Platz, dass er im Begriff war, mir etwas zu sagen, was ich lieber nicht hören wollte.
    »Beziehungen zu Bürgern der BRD werden nicht toleriert, wenn du Reisekader bist«, sagte Onkel Rolf. »Ich hänge an meinem Beruf, Lilly. Ich habe unterschrieben, dass ich keinen Kontakt zu deiner Mutter haben würde.«
    »Und wenn du nicht unterschrieben hättest«, hörte ich mich sagen, »dann hättest du deine Arbeit verloren, genau wie Lena …« Es war keine Frage.
    »Anzunehmen«, sagte Onkel Rolf.
    »Aber dass ihr solchen Ärger bekommt«, stotterte ich, »hat Mami das denn nicht gewusst?«
    »Ich glaube, sie hat gehofft, dass sie uns in Ruhe lassen«, antwortete mein Onkel. Er legte die Zeitung hin und sah mich ernst an. »Lena hat immer wieder versucht, zu euch zu fahren, das letzte Mal drei Tage vor Ritas Tod. Ich musste sie bei der Volkspolizei abholen, weil sie sich geweigert hat, ohne eine Besuchserlaubnis nach Hause zu gehen. Das allein hätte ihr fast eine Anzeige eingebracht. Lilly, Lena hätte alles getan, um deine Mutter noch einmal wiederzusehen. Das musst du mir glauben.«
    Ich konnte nur nicken. Ich schob meinen Teller weg, am liebsten hätte ich geweint, aber ich war wie gelähmt. »Wie könnt ihr hier bloß leben?«, entfuhr es mir.
    Onkel Rolf lächelte. »Wir können überall leben, weil wir zusammen sind. Deshalb bist du doch auch hier, oder nicht?«
    Er stand auf. »Und deshalb fahren wir jetzt los und holen dein Visum.«
    Onkel Rolf gab sich die größte Mühe, mich aufzuheitern, als wir durch einen Teil der Stadt fuhren, den ich noch nicht kannte. Er zeigte mir dies und das und setzte allerlei geschichtlich bedeutsame Ereignisse hinzu – Goethe und Schiller waren in diesem Park spazieren gegangen, in jenem Hotel hatte Martin Luther geschlafen –, aber ich hörte kaum ein Wort von dem, was er sagte. In mir war ein einziges großes Durcheinander. Niemand hatte das Recht, ein Urteil zu fällen über Mamis Entscheidung, in den Westen zu gehen – hatte Lena das nicht gestern noch mit großer Bestimmtheit gesagt? Wer nicht hier leben wollte, sollte gehen dürfen, das war auch für mich keine Frage.
    Dennoch spürte ich, wie sich langsam, aber sicher Vorbehalte einstellten, Vorbehalte ausgerechnet gegenüber Mamis Flucht zu meinem Vater, auf die ich doch immer so stolz gewesen war! Ich schämte mich: Warum hatte ich nie einen Gedanken daran verschwendet, dass eine Flucht aus der DDR, selbst wenn sie glückte, Nachteile für diejenigen bedeuten konnte, die zurückblieben? Und was noch schwerer wog: Hatte meine Mutter nicht daran gedacht? Hatte sie es vielleicht sogar in Kauf genommen? Eine kleine Stimme in mir sagte: Ja, auch das ist möglich.
    Onkel Rolf ließ den Wartburg am Straßenrand ausrollen und stellte den Motor ab. »Da sind wir«, verkündete er.
    Es klang wie eine Drohung. War es wirklich erst drei Tage her, dass ich arglos und erwartungsvoll in die DDR gekommen war? Als ich jetzt aus dem Auto stieg, empfand ich nur noch Angst. Offensichtlich konnten einem hier Dinge passieren, die ich mir nicht einmal auszumalen im Stande war. Was, wenn es nun auch wegen meiner Flucht Schwierigkeiten gab?
    Meine Knie fühlten sich an, als gehörten sie gar nicht zu mir, während wir die Treppenstufen zum Volkspolizei-Kreisamt Jena hinaufstiegen.
    Der skeptische Blick des bebrillten weißhaarigen Herrn auf dem Foto in der Amtsstube machte es nicht besser. Ich kannte Erich Honecker

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