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Lilly unter den Linden

Lilly unter den Linden

Titel: Lilly unter den Linden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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standen in Grüppchen zusammen, lachten und rauchten. Niemand achtete auf mich. Hätte ich den Weg gewusst, wäre ich zu Fuß nach Hause gegangen; so musste ich wohl oder übel warten, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich Lena oder Onkel Rolf begegnen sollte nach dem, was ich eben erfahren hatte. Ich versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, aber es gelang mir nicht. Immer wieder sah ich Mami in ihrem Krankenhausbett vor mir, von allen Freunden verlassen und in ihren letzten Momenten ganz allein. Wie selbstverständlich hatte ich geglaubt, was mir erzählt worden war: dass meine Verwandten nicht kommen durften, keine Besuchserlaubnis erhielten. Es war unfassbar, dass es nicht stimmte, dass sie uns genauso im Stich gelassen hatten wie alle anderen.
    Ich glaube, es war die bis dahin größte Enttäuschung meines Lebens, viel schlimmer noch als das feige Verschwinden von Pascal. Ich konnte nicht einmal weinen, ich hoffte nur, dass Mami diese Unaufrichtigkeit nie auch nur geahnt hatte. Ich lehnte an der Hauswand und sah den Rauchern zu, und in meinem Herzen breiteten sich Kälte und Verachtung wie ein unsichtbarer Panzer aus.
    Nach einer Weile kamen sie heraus, Lena, Onkel Rolf und Till. Ich stieß mich von der Wand ab und ging auf sie zu. »Da seid ihr ja«, sagte ich gleichgültig und sah Lena kalt in die Augen. Keinen von ihnen wollte ich ahnen lassen, wie sehr sie mich verletzt hatten! Damit hatte Lena wohl nicht gerechnet, man konnte geradezu hören, wie es ihr die Sprache verschlug. Wir gingen zum Auto und fuhren ohne ein Wort los. Till warf mir ratlose Seitenblicke zu, aber ich sah nicht hin.
    »Möchtest du noch eine Kleinigkeit essen?«, fragte Lena zu Hause.
    »Nein, vielen Dank.« Ich hängte meinen Anorak an die Garderobe und blickte mich zu ihr um. Die ganze Familie stand im Flur. »Ich bin müde, ich denke, ich werde zu Bett gehen«, kündigte ich förmlich an. Ich nahm an und hoffte, dass ich Lena mit meinem kühlen, unpersönlichen Gehabe mehr wehtat als mit Vorwürfen, und ihr Gesichtsausdruck enttäuschte mich nicht. Ich setzte noch eins drauf und erklärte: »Es war ein schöner Abend!«, bevor ich mich in Katrins Zimmer zurückzog und die Tür fest hinter mir schloss.
    So! Ich ließ mich aufs Bett fallen. Daran sollte sie jetzt erst einmal knabbern!
    Mein zweiter Tag in der DDR endete damit, dass ich stundenlang nicht einschlafen konnte, weil ich mir voll wütender Genugtuung ausmalte, wie Lena und Onkel Rolf vor lauter schlechtem Gewissen in dieser Nacht keine Ruhe fanden.
    Als ich am nächsten Morgen an den Frühstückstisch kam, war Lena bereits fort. Weihnachten war vorbei, sie musste wieder arbeiten, und obwohl ich fest entschlossen war, sie erst einmal links liegen zu lassen, versetzte es mir einen kleinen Stich, dass sie nicht da war. Nicht einmal Till hatte auf mich gewartet, sondern war zu einem Freund gefahren. Nur Onkel Rolf, der sich meinetwegen einen Tag frei genommen hatte, saß da, las die Zeitung und musterte mich in gewohnter Manier milde über die Brille hinweg. Verräter! Ich grüßte knapp und setzte mich.
    »Wenn du fertig gefrühstückt hast, fahren wir zur Meldestelle«, erinnerte er mich. »Aber vorher möchte ich noch mit dir reden.«
    »Von mir aus«, erwiderte ich gleichgültig.
    Ich griff nach einer drei Tage alten Scheibe Brot, die sich wie Pappe anfühlte, und dachte mit voller Absicht daran, dass wir in Hamburg jeden Morgen frische Brötchen zum Frühstück bekamen. Überhaupt fiel mir erst jetzt auf, wie hässlich dieses Wohnzimmer war! Eine wuchtige Stehlampe mit gelbem Stoffschirm bewachte eine bescheidene braune Sitzecke und einen knarzenden Schaukelstuhl. Die Regalbretter einer dunklen Schrankwand bogen sich unter dicken Romanen und Lexika und hinter den Schiebefenstern des Vitrinenaufsatzes versteckten sich Weingläser, mit denen meine Großeltern schon auf das Ende des letzten Krieges angestoßen haben mussten. Die sechs Holzstühle rund um den Esstisch waren so blank gesessen, dass man befürchten musste wegzurutschen, wenn man sich zu schnell hinsetzte.
    Zwar führten zwei, drei bunte Kissen, ein paar Grünpflanzen und gerahmte Kunstdrucke einen tapferen Kampf gegen die Grundeinrichtung und über allem lag das behagliche Ticken der großen Standuhr, aber von unserem geschmackvollen Wohnzimmer zu Hause war dieses hier Lichtjahre entfernt! Selbst der Blick aus dem Fenster in den blauen Ost-Himmel konnte meinem unbarmherzigen Auge an diesem Morgen nicht

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