Lillys Weg
ihr Körper langsamer als ihr Geist auf die entspannte Lage reagierte.
Sie roch den Duft von Kaffee, frischer Seife und Aftershave, als sie die Tür öffnete. Oskar hatte den Frühstückstisch schon gedeckt und breitete seine Arme aus. Lilly lief auf ihn zu, küsste ihn zärtlich und war dankbar, dass die Fremdheit, die durch die Trennung entstanden war, vom Feuer des Streites verbrannt worden war. Ein klares, tiefes Gefühl wuchs in ihr, und sie wusste, dass sie in der nächsten Nacht ihre innersten Räume wieder öffnen konnte.
Das Thema mit Niklas wurde vertagt. Lilly beobachtete ihren Sohn in den nächsten Tagen und wurde sich immer mehr bewusst, dass es ihr Wunsch war, ihn mitzunehmen, weil sie es nicht ertragen konnte, ihn bei seinem Vater zu lassen. Doch ÂNiklas war auch hier zu Hause. Sie durfte nicht egoistisch sein.
Es war der 31. Dezember, als sich aus unterschiedlichen Ländern einige Menschen aufmachten, um gemeinsam auf der deutschen Seite des Pfänders Silvester zu feiern. Ralf hatte am Telefon getobt, weil er die Aktion gefährlich fand, war aber dann einverstanden, gemeinsam mit Chris Clarissa in Salzburg abzuholen. Johanna nahm John und Nelly mit und Rudi freute sich besonders, dass eine âsubversive Tätigkeit im Gang warâ. Ella hatte Leander informiert, der in der Silvesternacht als Bandmitglied der âWäldermusiâ bei einem Ball aufspielte. Annemarie wagte es nicht, zu kommen. Sie hätte es ihrem Mann sagen müssen und war sich sicher, dass er, als braver Bregenzer Bürger, in Ohnmacht gefallen wäre.
Tresi, die Wirtin, die eigentlich Theresa hieÃ, stand in ihrer Küche und schnitt Berge von Zwiebeln, als Lilly und Oskar mit Lea und Niklas am Nachmittag als Erste ankamen. Letizia hatte sie chauffiert. Ihr Sohn kam mit ihren Enkelkindern nur alle paar Jahre nach Europa zurück und verbrachte seinen WeihnachtsÂurlaub in diesem Jahr in den USA.
Die fast blinde Frau, der man nachsagte, dass sie nicht nur kochte, sondern auch hellsichtig und heilkundig war, hielt inne und sah die Ankömmlinge aufmerksam an. Dann kam sie näher und sagte: âWir werden miteinander feiern, darf ich euch kennenlernen?â Es war nicht ganz klar, ob sie das Nicken sah oder spürte. Jedenfalls nahm sie ihre Hände und berührte sanft Lillys Gesicht. Sie tastete es vorsichtig ab und wandte sich dann Oskar zu. Als sie ihre Hände hob, zuckte er zurück. Sie lächelte und sagte: âIch tue dir nichts. Ich spüre, dass du in Schwierigkeiten bist. Ich bin eine alte Frau, ich habe so viel erlebt, dass mich nichts mehr wundert.â Oskar entspannte sich und lieà zu, dass sie sein Gesicht erforschte. Lilly sah ihr dabei zu und versuchte, in ihrem zu lesen. Wusste diese Frau, was auf ihre Familie zukam? Doch die Züge der alten Frau blieben leer und still wie ein GefäÃ, in das sich jeder hineindenken konnte, was er wollte. Erst als sie die Gesichter der Kinder, eins nach dem anderen, mit ihren Händen hielt, lächelte sie sanft und wurde dann sofort wieder ernst: âSo tapfer, viel zu tapferâ, murmelte sie und strich den beiden zärtlich übers Haar.
Sie tranken gerade Tee, den Tresi aus selbst gesammelten Kräutern gebraut hatte, als Lillys Mutter mit Ella ankam und ihr Vorwürfe machte: âWieso hast du mir nicht gesagt, dass du nur als Tarnung in die Sauna gehst und in Wirklichkeit Oskar besuchst?â Lilly sah sie liebevoll an: âWeil du keine gute Komplizin bist, Mama. Man sieht dir an der Nasenspitze an, dass du etwas verbirgst. Deine Nervosität hätte uns verraten können.â
Als Johanna und Rudi mit den beiden Kindern die rustikale Gaststube betraten, ging Oskar sofort mit Tränen in den Augen auf sie zu: âEndlich lerne ich euch kennen. Ihr seid, so wie alle anderen hier auf diesem Fest, Engel auf Erden.â
Lilly, die in der Nähe stand, sagte halblaut: âJa, alle bis auf Clarissa.â Ihre Schwiegermutter, die mit Ralf und Chris erwartet wurde, würde endlich ihr geliebtes Ossilein wiederhaben. Es war klar, dass sie nicht mit an den See gedurft hätte. Das wäre zu gefährlich gewesen. Aber hier, an diesem Ort, an dem sie sich nur einmal treffen würden, sollte Oskar endlich seine Mutter wiedersehen.
Ralf neigte nicht zur Pünktlichkeit. Die Kässpätzle waren schon fertig und warteten in groÃen Schüsseln im riesigen alten
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