Lillys Weg
Backrohr, als die Tür aufging und Clarissa hereinstürmte. Sie flog auf ihren Sohn zu, sprang mit dem Schlachtruf âmein Ossilein, mein Ossileinâ an ihm hoch, umklammerte ihn mit ihren Beinen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Es war eine Geste, die einem kleinen Kind oder einer Geliebten zustand. Johanna und Rudi, die sie nicht kannten, rissen die Augen vor Erstaunen auf, und Lilly wusste, dass dieser Abend mit Oskar gelaufen war. Sie nahm es mit Gelassenheit. Es war so lange her, dass sie mit Freunden Silvester gefeiert hatte. Es fiel ihr nicht schwer, dieser alten, einsamen Frau den Platz an seiner Seite zu überlassen.
Es war kurz vor Mitternacht, als sie mit ihren Sektgläsern vor der Tür standen und das neue Jahr erwarteten. Ralf und Chris hatten sich Clarissa geschnappt und sie in ihre Mitte genommen. Sie strahlte zwischen den beiden Männern, und ihre Augen blitzten wie die eines jungen Mädchens. Lilly warf ihnen einen dankbaren Blick zu. Oskar hatte seinen Arm um sie gelegt und Lea und Niklas standen eng an ihre Eltern gekuschelt: âMöge Gott uns schützen, mein Lieb. Mögen wir noch viele Jahre miteinander glücklich sein.â Lilly spürte eine tiefe Dankbarkeit. In diesem Augenblick, mitten in diesem Kriminalroman, in dem sie lebte, hatte sie das Glück gefunden und wollte es behalten.
1. Januar 1989
Ich sehe Oskar und Niklas zu. Sie steigen in Letizias Auto. Ich möchte hinlaufen und ihm das Kind wegnehmen. Man kann es nicht noch einmal von mir trennen. Kinder gehören zu ihrer Mutter. Lea steht mit hängenden Schultern neben mir. Die Entscheidung ist gefallen. Schon vor ein paar Tagen. Oskar will Niklas nicht hergeben, und er will bei seinem Vater bleiben. âWir haben es so gut miteinander. Lass uns diese kostbare Zeit, bis er in die Schule muss. Ein Sohn braucht seinen Vater.â Es ist alles logisch, aber es bricht mir das Herz. Und Lea auch.
Wir haben in Privatquartieren übernachtet. Ella hatte die Schlüssel dabei. Unsere Gastgeber schliefen schon, als wir um drei Uhr morgens in unsere Betten krochen. Jetzt ist es Mittag. Wir haben gemeinsam bei Tresi gefrühstückt, jeder hat etwas mitÂgebracht.
Vergangene Nacht war ich glücklich. Jetzt sehe ich meinen Sohn wegfahren und weiÃ, dass erneut ein immer unerträglicherer Alltag beginnt. Ohne Oskar und ohne Niklas. Wir stehen auf dieser Wiese auf dem Rücken des Pfänders und winken, bis das Auto auf der langen SchotterstraÃe ins Tal hinter einer Biegung verschwindet. Ich lege meinen Arm um Lea und gehe mit ihr zu Rudis Auto. Die anderen sind schon eingestiegen und ich weiÃ, dass sie unsere Abschiedsszene beobachtet haben. Ich sitze mit den drei Kindern im Fond und bin einfach nur still.
Rudi fährt einen alten, grünen Militärjeep, obwohl er Pazifist ist. Er hat auf beiden Seiten mit GroÃbuchstaben in weiÃer Farbe âMake Love Not Warâ auf das Auto geschrieben und betrachtet das als seinen Beitrag zur Friedensbewegung. Jetzt stellt er das Radio an und ich bin ihm dankbar. Er ist ein Mann, der seine Gefühle nicht zeigen kann, aber die der anderen spürt und im richtigen Augenblick das Richtige tut. Ich sage in die Musik hinein: âWie lange wird die Staatspolizei diesen hohen Aufwand noch betreiben, um mich zu überwachen?â Rudi dreht sich nicht zu mir um, aber lächelt mich im Rückspiegel an: âSolange die Medien und die Politiker Interesse an dem Fall haben. Für einen gewöhnlichen Mord würde niemand so viel Geld ausgeben. Aber hier liegt der Fall ganz anders. Es ist peinlich, dass sie nicht listig genug sind, Oskar zu erwischen. Sie werden den Druck eher verstärken als lockern.â
Lilly hatte längst aufgehört, die Tage zu zählen, seit Oskar geflüchtet war. Sie reihten sich inzwischen aneinander wie eine graue Masse, aus der die Besuche bei ihm herausragten. Bei ihm und Niklas. Sie würde vielleicht nie wissen, ob es für ihren Sohn gut war, bei seinem Vater zu leben. Er machte einen glücklichen Eindruck. Aber war das nicht seit seiner Geburt so gewesen? Er schien schon als Baby die Welt aus Augen zu betrachten, die nur sahen, was sie sehen wollten. Lilly hatte nie gewusst, was ihn in seinem Inneren wirklich bewegte. Und es war auch seine Entscheidung gewesen, bei Oskar bleiben zu wollen. Konnte ein Kind seines Alters das wirklich beurteilen? Und was davon war Mitgefühl mit
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