Lillys Weg
Familienleben nicht darauf aufbauen, dass sie auf Rudi verzichtete, damit John und Nelly in einer heilen Welt, die keine war, leben konnten.
âJa, ich liebe ihn als wunderbaren Menschen und als Vater Âunserer Kinder. Ich würde mich um ihn kümmern, wenn er etwas braucht. Ich bin mit ihm durch eine lange Geschichte verbunden. Aber es ist keine Liebe mehr zwischen Mann und Frau.â
Lilly dachte an ihre Eltern. An ihre Kindheit, die so verwirrend für sie gewesen war. An die Unklarheit des Paares, das sich nie für oder gegen die Beziehung entschieden hatte. Sie erinnerte sich an das Gefühl, dass mit ihr selber etwas nicht stimmte, weil sie etwas spürte, wo Bild und Text nicht übereinstimmten.
âDu darfst das deinen Kindern nicht antun, dass du dich für sie opferst. Der Preis ist für dich, aber auch für sie zu hoch. Ihr könnt Eltern bleiben. Kevin kann sich in eurer Nähe eine Wohnung mieten, wenn er in Europa bleiben will, und sich als Mann neu orientieren.â
âDas hat mir Ralf auch schon gesagt. Aber wenn ich John und Nelly sehe, die sich schon auf ihren Vater freuen, bricht mir das Herz. Und gleichzeitig weià ich, dass ich Rudi liebe und ihn nicht gehen lassen kann.â
Es war an einem grauen Vormittag Ende Januar, als Volker Korbei, Lillys Gynäkologe und Freund, Ralf in der Redaktion anrief: âIch habe Lilly ins Krankenhaus gebracht. Sie hatte einen Kreislaufkollaps und konnte sich noch zum Telefon schleppen, um mich anzurufen.â
Ralf nahm sich ein Taxi und fuhr ins Allgemeine KranÂkenhaus. Er hasste den Geruch dieser deprimierenden langen Gänge mit den Plastikböden und wäre am liebsten wieder Âgeflüchtet. Das letzte Mal war er hier auf der IntensivstaÂtion gewesen, als sie versucht hatten, die Ãberreste seines mit dem Motorrad verÂunglückten Freundes zusammenzuflicken.
Ralf fühlte sich schuldig. Er hatte Lillys Zusammenbruch kommen sehen und nichts dagegen getan. Er hätte sie zwingen müssen, irgendwohin auf Urlaub zu fahren, wo es warm war. Sie brauchte dringend Licht und Sonne.
Sie lag allein in einem Zimmer und Ralf dankte ihrem verÂstorbenen Vater, der auf einer Zusatzkrankenversicherung bestanden hatte. âIch werde nie krank sein und ich brauche keine Privilegienâ, hatte seine Tochter damals gesagt. Jetzt lag sie wie ein Häufchen Elend von Kopf bis Fuà in KortiÂsonbandagen eingewickelt da und fragte als Erstes nach Lea.
âSie ist bei Johanna und wird mit ihr heute Abend vorbeikommen.â Lilly schloss erleichtert die Augen, und als Ralf ihr sanft übers Gesicht strich, fing sie still an zu weinen.
âIch kann nicht mehr, es ist mir alles zu viel. Gestern haben zwei Kollegen angerufen, sie wollen eine Geschichte mit dem Titel âDie Erotik der Frau Baldiniâ schreiben, weil ich mich auf die Sexualität von alten Frauen spezialisiert habe. Ich habe sie angefleht, die Geschichte zu verschieben, bis Oskar aus dem Gröbsten heraus ist. Jetzt wollen sie stattdessen eine Geschichte über ihn.â Ralf notierte sich die Namen der beiden und versprach, die Sache zu regeln.
âLilly, du musst endlich Urlaub machen. Und zwar allein. Du brauchst Zeit für dich, Zeit, in der du für niemanden verantwortlich bist.â
âUnd was ist mit Lea? Ich kann sie nicht alleine lassen, sie braucht mich jetzt mehr denn je!â
âSie braucht eine gesunde Mama und kein Wrack, das so tut, als ob es ihm gut ginge. Deine Mutter kann kommen und sich um Lea kümmern.â
2. Februar 1989
Ich habe Angst. Angst, hierzubleiben und in ein immer tieferes Loch zu fallen. Angst, wegzufahren und mit mir alleine zu sein. Bisher ist mir mein Körper über seine Grenzen hinaus gefolgt. Er hat erlaubt, dass ich mich selbst vergesse, dass ich aufgehe in der Sorge um Oskar und die Kinder. Jetzt liege ich in einem Haus, in dem das Leid täglich zu Gast ist. Hier sterben Menschen und werden in Särgen weggetragen. Manchmal spüre ich, dass Sterben auch eine Alternative wäre. Ich bin so müde ⦠Aber dann denke ich an meine Familie und weiÃ, dass ich durchhalten muss. Ralf hat recht. Aber vorher muss ich den beiden Kollegen ein Interview mit Oskar vermitteln. Markus Längle befürwortet die Idee. Er glaubt, dass eine eigene Darstellung in den Medien nützlich sein könnte.
Manchmal hasse ich meinen Beruf. Wir haben eine Macht, die uns nicht
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