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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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zusteht. Wir können Menschen fördern oder vernichten, Trends stärken oder umbringen, Dinge als wahr darstellen oder als Lüge diffamieren. Und wenn uns ein Fehler passiert, dann gibt es eine kleine Berichtigung. Dass hinter solchen Berichtigungen manchmal zerstörte Menschenleben stehen, interessiert niemanden. Jetzt gehöre ich zu den Menschen, die auf der anderen Seite leben.
    Es war ein Treffen, das Ralf arrangiert hatte, kurz nachdem Lilly aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Sie kannten die beiden Kollegen seit vielen Jahren. Wenn Anstand in ihrem Geschäft einen Namen hatte, dann konnte er durchaus mit den beiden besetzt werden. Sie waren kein Paar, aber arbeiteten seit ihrem Studium zusammen und waren in der Branche für ihre gut recherchierten Reportagen bekannt. Im Extrazimmer des Gläsernen Elefanten , in dem man ungestört reden konnte, steckten Ralf und Lilly die Bedingungen für die beiden ab. Es würde ­einen Treffpunkt in der Nähe von München geben. Weit genug weg vom See. Oskar, mit dem Lilly schon telefoniert hatte, würde ein Interview geben, das zunächst Ralf und Lilly vorgelegt werden musste und erst mit dem Okay des Anwalts gedruckt werden durfte. Sie würde die beiden nicht zu ihrem Mann begleiten, das wäre zu gefährlich.
    Lilly sehnte sich nach Oskar und Niklas. Und gleichzeitig hatte sie keine Kraft mehr für Undergroundaktionen, wie Rudi es nannte. Wann würde Oskar endlich ein deutsches Gericht finden, das bereit war, seinen Fall zu verhandeln? Bisher hatten ihn alle abgewiesen: „Wir werden Ihren Mandanten verhaften, sobald er sich stellt“, war eine Drohung gewesen, die das Versteckspiel immer weiter in die Länge zog.
    Lilly belauerte täglich ihre Haut. Sie hatte Angst, dass der Ausschlag, der durch die Behandlung mit Kortison unterdrückt worden war, wieder aufflammen könnte. Sie versprach ihrem Körper, dass sie demnächst ans Meer und in die Stille der Wüste fahren würde. Sie wusste auch schon, wohin.
    Es war vor zwei Jahren gewesen. Ein Beratungsunternehmen hatte unter dem Titel „Großstadtnomaden in der Wüste“ eine Reise in die Stille für gestresste Manager angeboten. Damals hatte Lilly Dahab und im Hinterland des kleinen Ortes die Wüste Sinai kennengelernt. Sie war mit acht Männern und einem Tross von Kamelen und Führern fast eine Woche durch Steinfelder und Dünen gewandert und hatte sich gewundert, wie panisch manche Menschen auf die Stille reagieren.
    Nach kurzer Zeit hatten sich zwei Gruppen gebildet. Die ­einen, die dafür eintraten, dass am Abend am Lagerfeuer das Schweigen den Raum öffnen sollte für die Ereignisse des Tages. Die anderen, die sich Witze und Geschichten erzählen und dabei ein paar Bier trinken wollten. Die beiden Reiseleiter, eine Frau und ein Mann, vermochten die Gruppe mit ihren unterschied­lichen Bedürfnissen nicht zu vereinen und schlugen vor, am Abend getrennte Lager aufzuschlagen.
    Lilly war von einem Platz zum anderen gewandert und hatte Interviews geführt, auch wenn die stille Truppe ihr deutlich lieber gewesen wäre. In den wenigen Momenten, in denen sie nicht mit ihrer Reportage beschäftigt war, hatte die Wüste ihr Inneres berührt. Sie sah das Bild vor sich, wie sie am letzten Tag, bevor sie in den Jeep gestiegen war, sich kurz verneigt, den Sand aus ihren Schuhen geschüttelt und leise gesagt hatte: „Ich komme zurück.“
    Der Flug war für nächste Woche gebucht, Lilly wollte kein Hotel reservieren. Ralf fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie einfach drauflos fuhr. „Und wo finde ich dich?“ Lilly lächelte ihrer Nomadin innerlich zu und antwortete: „Am Meer und unter den Sternen in der Wüste.“
    Drei Tage vor ihrem Abflug kamen die beiden Journalisten mit Material aus Deutschland zurück und legten das Interview vor. Lilly war erstaunt, wie Oskar sich darstellte. Als kleines Licht, als Laufbursche von Paolo, als jemand, der auf der Ebene der Sekretärinnen agierte und aus dem Raum geschickt wurde, wenn es um Geheimnisse ging. Am meisten wunderte sie, dass unter seinem alten Foto – er durfte aus Sicherheitsgründen nicht fotografiert werden – der Satz stand: „Herr Vicente? Ich war immer sein Untergebener. Ohne seine Einwilligung durfte ich nicht einmal sein Büro betreten. Er war der Chef und ich ein kleiner

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