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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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das Jetzt, um die Akzeptanz des Augenblicks geht. Leben ist eigentlich sehr einfach. Wir haben nur unsere Spur verloren. Ich füttere und melke jeden Morgen meine Ziegen und am Nachmittag kommen Menschen zu mir, die meine Hilfe brauchen. Und alles ist gleichwertig.“ Rita steht auf: „Ich gehe jetzt und lasse dich allein. Ein Zyklus deines Lebens endet hier und ein neuer beginnt. Was du daraus machst, bestimmst du selbst. Fühl dich frei, du kannst bis zum Ende des Wadis gehen. Es ist nicht gefährlich.“
    Dahab ist weit weg. Es gehört zu einer anderen Welt, obwohl es nur zwanzig Minuten weit entfernt liegt. Die roten Berge umschließen diesen Platz, der wie eine Perle im sicheren Bauch von Mutter Erde geborgen liegt. Für einen kurzen Augenblick schickt mir die Zivilisation noch einmal einen kleinen Gruß, als ein schwarzer Müllsack wie ein Vogel durch die Luft fliegt. Dann bin ich allein in dieser unglaublichen Stille, die nur die Wüste kennt. Der Pfad lenkt mich in Mäandern durch die kleine Schlucht, und als ich fast am Ende angelangt bin, stehe ich vor einer Vagina. Es berührt mich tief, dass hier mein Ebenbild von der Natur in Stein geformt wurde. Doch der Weg geht noch ein Stück weiter. Ich lande bei einem glatten Felsen, der aussieht wie der Kopf eines Kamels. An der Seite lehnt eine wackelige Leiter, die auf ein Plateau führt. Ich steige nicht hinauf. Ich trage eines meiner langen weißen Leinenkleider und weiß, dass ich ein anderes Mal wiederkommen muss. Ist das der männliche Platz?
    Die Felsenvagina hat einen Vorplatz aus feinem Sand, sie lädt mich ein, mich hinzulegen. Ich habe die blaue Decke mitgebracht und es erscheint mir ganz natürlich, dass ich mich ausziehe. Ich weiß, dass ich hier in einer Kultur lebe, in der Frauen ihre Haut und ihr Haar bedeckt halten. Aber niemand kann mich sehen. Und Gott hat diese Regeln nicht geschaffen. Er hat nicht verlangt, dass wir unseren Körper verbergen. Die Sonne streichelt mich. Nackt, wie die Göttin mich erschaffen hat, liege ich eine kleine Ewigkeit einfach nur da und spüre, dass mein Hunger nach Licht und Wärme gestillt wird.
    Wie spät ist es? Ich muss es nicht wissen. Rita hat mir ge­sagt: „Fühl dich frei, hier gibt es keine Zeit. Du kannst im Wadi bleiben, so lange du willst. Niemand wird kommen und dich stören.“
    Das Wort Urlaub taucht vor mir auf. Es war mein ganzes Leben lang ein Begriff, der mit Stress verbunden war. Es bedeutete Planung, Anpassung und Erwartungen und in den letzten Monaten zusätzlich eine aufwendige Logistik und die Verpflichtung, in dieser kostbaren Zeit auch noch glücklich zu sein.
    In dieser Schlucht in der Wüste bekommt das Wort einen neuen Sinn: Ich bin in meinem Ur-Zustand und erlaube mir, ganz ich zu sein.
    Mein Körper, der nie ganz weiß wird, auch nicht im Winter, saugt die erste Sonne in diesem Jahr dankbar ein. Ich muss nicht denken, nicht handeln und nichts verstehen. Die Fliegen sind meine einzigen Beobachter. Sie setzen sich auf meine Lippen und ich lächle ihnen zu: „Ihr habt recht, es ist absurd, in der Wüste mit einem Lippenstift zu erscheinen. Wenn er euch schmeckt, könnt ihr ihn gerne haben.“ Als sich eine vorwitzige Fliege auf meinen Oberschenkel ganz nahe zu meiner Vagina setzt, ver­jage ich sie nicht. Es ist, als ob sie mich daran erinnert, wie lange ich mich selber nicht mehr berührt habe, dort, wo ich ursprünglich bin.
    Ich denke für einen Augenblick an Oskar. Wir schlafen mit­einander, aber unsere Begegnungen haben nichts mit meiner ­Urkraft zu tun. Es ist, als ob zwei Ertrinkende sich an einem Strohhalm festhalten, weil es keinen sicheren Balken gibt. Wir trösten einander, wir wärmen einander, wie Tiere, die sich vor der Kälte schützen.
    Hinter mir steht schützend die Vagina aus Stein, als ich ganz sanft meinen Körper erforsche, der mir in den letzten Monaten fremd geworden ist. Ich möchte für immer hierbleiben. Ich bin ein Teil der Wüste. Leer und frei. Bis mir kalt wird.
    Rita steht am Herd in ihrer Küche unter der Kuppel, als ich aus dem Wadi zurückkomme. Sie rührt hingebungsvoll in einem Topf, aus dem es nach orientalischen Gewürzen duftet: „Ich bin Griechin aus Zypern, ich liebe es, köstliche Speisen zuzubereiten.“ Ich bin überrascht: „Ich dachte, du bist Engländerin?“ Sie spuckt den nächsten Satz

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