Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
Vom Netzwerk:
aus wie eine verdorbene Speise, die sie irrtümlich gekostet hat: „Ich hasse England. I hate England.“ Sie sagt es mit einem Akzent, der sie als echte Britin ausweist, auch wenn sie es nicht sein will. „Meine Eltern sind aus Zypern ausgewandert, deshalb wurde ich in England geboren. Als ich ein Jahr alt war, haben sie mich zu meinen Großeltern in ein kleines Dorf zwischen zwei Wasserfällen geschickt. Dort bin ich geblieben, bis ich sechs war, sie haben mich nie besucht. Ich lebte als Griechin unter Griechen, und eines Tages kamen sie vorbei und haben mich einfach wieder mitgenommen. Ich wusste nicht, wer diese Fremden waren, die mich in ein kaltes Land verschleppten, dessen Sprache ich nicht verstand. Es war wie ein Weltuntergang und es fiel mir schwer, zu glauben, dass ich in dieser Familie willkommen bin. Ich war so anders als meine beiden älteren Geschwister, die sie bei sich behalten haben. Ich konnte mich an
die englische Kultur nie gewöhnen und wurde eine unglückliche ­junge Frau. Vielleicht bin ich deswegen hier so glücklich.“
    Rita stellt das fertige Essen zur Seite: „Lass uns nach Lilly ­sehen, sie braucht ihre Milch.“
    In der Wüste wird es schnell kalt und dunkel. Als wir zurückkommen, hat Ibrahim das Kohlenfeuer im Haus angezündet und Rita wärmt das Essen auf. Der Augenblick, den wir bei den ­Ziegen verbringen wollten, hat mehr als eine Stunde gedauert. Niemand schaut auf die Uhr, wann Essenszeit ist. Ich denke an den Haushalt meines Vaters und daran, dass das Mittagessen um Punkt zwölf, wenn er aus dem Geschäft kam, fertig sein musste. Im Bregenzerwald war es leichter. Da richtete sich das Leben nach dem Vieh. Ich merke, dass ich es gewöhnt bin, zwischen zwei Welten hin- und herzuwandern und fühle mich bei den Beduinen ganz zu Hause.
    Als mein Taxifahrer, den ich am Vormittag gebeten habe, mich am Abend wieder abzuholen, vor der Tür steht, bringt er die andere Welt mit, in die ich ungern zurückkehre. Rita und Ibrahim haben kein Auto. Sie reiten auf dem Kamel in den Ort. „Du sollst morgen wiederkommen“, sagt Ibrahim. Rita nickt. Sie weiß, dass meine Zeit im Camp noch nicht zu Ende ist, und ich weiß es auch.
    Im Hotel lächelt Ahmet mich freundlich an und sagt: „Heute Abend ist Beduinendinner, Sie müssen unbedingt kommen, dann lernen Sie die Kultur der Wüstenstämme kennen.“
    Ich kenne die Beduinenabende in Hotels. Die Manager, mit denen ich damals gereist bin, waren begeistert davon. Die Hotel­angestellten ziehen sich ihre traditionellen Beduinenkleider an und die Köche bringen aus der Hotelküche das Beduinendinner.
    Lilly schlief unruhig. Diesmal nicht, weil die Sorgen sie besuchten. Diesmal kam die Wüste in ihre Träume und eine Ahnung, dass sich vieles in ihr änderte, ohne dass sie genau wusste, was. Sie lag, als die Sonne durch einen Spalt ihrer dicken Vorhänge schien, im Bett, hörte den Wellen zu und dachte an Oskar. Er würde nicht verstehen, dass sie sich in einem primitiven Wüstencamp wohlgefühlt hatte, bei einer verrückten Europäerin, die dieses Leben liebte und einer Vision gefolgt war. Er würde sich Sorgen machen, wenn er wüsste, dass sie wieder hinfahren wollte. Sie wünschte, Ralf wäre jetzt hier, er würde sie verstehen. Oskar würde sich nie auf so etwas einlassen. Er könnte sich auch nie in einem Beduinencamp einen ganzen Tag lang auf den Boden „in den Dreck setzen“ und zog, wenn sie reisten, feine Hotels der Berührung mit dem „Lokalkolorit“ vor. Doch das spielte jetzt alles keine Rolle. Oskar war weit weg, und Lilly spürte, dass sie gerade dabei war, sich selber neu zu entdecken. Die Frau, die sich ihr Leben lang nach anderen gerichtet hatte, begann ihren Abschied zu nehmen.
    Sie saß beim Frühstück und wusste nicht so recht, wie die neue Lilly den Tag verbringen wollte. Also startete sie mit etwas Vertrautem, was sich immer schon bewährt hatte, sie bewegte sich in der Natur. Sie wanderte wieder den Strand entlang und wunderte sich, dass er heute deutlich sauberer war. Jemand hatte begonnen, ihn aufzuräumen. Der Müll war zwar noch da, aber er lag in großen Haufen am Ufer und wartete darauf, weggebracht zu werden. Die Hauptsaison begann in vierzehn Tagen, vielleicht hatte sie vorgestern nur die Vortourismusvariante erlebt.
    Ohne darüber nachzudenken, sammelte sie

Weitere Kostenlose Bücher