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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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gespannt, an denen getrocknete Kräuterbündel hingen. Von Letizia keine Spur. Sie richtete ihr Leben nach den Jahreszeiten aus und so wie ihre Pflanzen eine Ruhezeit einlegten, saß sie in der stillen Jahreszeit häufig in ihrem alten, bequemen Lehnsessel und las. Lilly klopfte überall, sie rief, sie schrie laut. Stille. Vielleicht war Letizia in den Wald gegangen und sammelte Holz, weil der Winter in diesem Jahr besonders kalt war. Sie wartete noch eine Weile und sah das alte Haus zum ersten Mal mit Augen, die nichts anderes zu tun hatten. Die grünen Fensterläden waren frisch gestrichen, Oskar hatte seiner Vermieterin aus Dankbarkeit im Herbst dabei geholfen, und der Schutzanstrich für die alten, braunen Balken war auch erneuert worden. Sie lebten längst wie eine Familie und Letizia war die Sippenälteste, die verehrt, geliebt und geachtet wurde.
    Lilly ließ das Anwesen, das eine ganz besondere Energie ausstrahlte, hinter sich und ging zu Oskars Hütte, dem ehemaligen Gästehaus, zurück. Es war, als ob dieser Ort, der für sie Sicherheit und Schutz bedeutete, sich zum ersten Mal als eigenes Wesen präsentierte. Bisher gab es immer Oskar und dann Niklas, die dort warteten. Sie standen im Vordergrund des Bildes und die Kulisse spielte keine Rolle mehr. Jetzt war plötzlich das kleine Häuschen das einzig Vertraute. Ihre Verbindung zu ihrer Familie, ihr Lichtblick, ihre Hoffnung. Sie sah mit neuer Zärtlichkeit Details, die ihr bisher nicht aufgefallen waren. Wie harmonisch die Querbalken aus ganzen Holzstämmen aufeinandergesetzt waren und sich mit denen der Schmalseite trafen. Es sah so aus, als hätte der Zimmermann keinen einzigen Nagel gebraucht. Der Dachgiebel war ein Kunstwerk. Auch hier waren die Balken schräg aneinandergefügt und millimetergenau zugeschnitten worden. Das große Fenster an der Südseite, unter dem die Hausbank stand, war durch feine Holzsprossen unterteilt. Ein kleiner Schlitten stand vor der Tür, den Niklas vergessen hatte zu verräumen. Lillys Kräuterbeet, für dessen Einfassung Oskar ihr ­einen Baumstamm in gleichmäßige Stücke zersägt hatte, schlief unter dem dicken Schneebett.
    Sie fand den Schlüssel unter dem Stein und betrat das Haus. Es sah so klein aus, ohne die Menschen, die es bewohnten, obwohl sie wusste, dass das eigentlich absurd war. Aber wahrscheinlich war sie so sehr auf ihre Familie fixiert, dass ihr die räumliche Enge bisher noch nicht aufgefallen war. Oskar hatte im Sommer die braunen Holzwände weiß gestrichen und den Überzug auf dem Sofa mit einem hellen Leinenstoff erneuert, der früher dunkel war. Das machte den Raum ein bisschen größer. Im ersten Augenblick war es warm und fast gemütlich, als sie aus der Kälte kam. Aber nur für einen Augenblick. Sie musste sich bewegen, bis Oskar und Niklas kamen, legte ein paar Holzscheite in den Ofen, sperrte die Türe wieder zu und ging zum See.
    Auf dem Weg dorthin traf sie zwei Landschaftsgärtner mit orangefarbenen Schutzwesten. Sie standen vor einem Gerüst auf Rädern und fachsimpelten über eine Birke, die offenbar geschnitten werden musste, weil sie bei Sturm eine Gefahr darstellte. Lilly fühlte sich einsam und fragte die beiden nach dem Namen der anderen Bäume, die hier im Landschaftsschutzgebiet wuchsen. Die beiden schienen sich über ihr Interesse zu freuen und zähl­ten abwechselnd die ganze Vielfalt auf: Eichen, Erlen, Pappeln, Schwarzkiefern, Eschen, Ahorn, Kastanien, Linden und Wildkirschen. Lilly schaute mit ihnen gemeinsam in den Himmel auf die Zweige, die bei den meisten Bäumen kahl waren, und hatte keine Ahnung, welcher nun welcher war. Sie nahm sich vor, im Frühling, wenn sie wieder Blätter trugen, das Pflanzenbestimmungsbuch, das ihr Ella zu Weihnachten geschenkt hatte, mitzubringen.
    Der kleine Strand, an dem sie schon so viele Stunden verbracht hatte, strahlte eine Ruhe aus, die Lillys Einsamkeit von ihr nahm wie eine Krankheit. Sie sah auf die vertrauten, vielfarbigen Kieselsteine und folgte mit den Augen ihren Bewegungen, wenn das Wasser mit ihnen spielte. Alles war gut. Sie hatte ihren Schirm beim Haus gelassen und ließ zu, dass der Schnee ihr eine Kappe auf den Kopf setzte, die schmolz und in winzigen Rinnsalen von ihrer Kopfhaut über ihr Gesicht rann.
    Lange stand sie da und merkte nicht, dass inzwischen auch ihr Mantel, der für Ägypten zu warm

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