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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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selbst übernehmen: „Du kümmerst dich um Gott und die Welt, aber wann wirst du dich um dich selbst kümmern?“ Er war richtig zornig auf sie und Lilly war nach ihrem ersten Widerstand gerührt, dass Ralf sich solche Sorgen um sie machte. Auch wenn sie unbegründet waren.
    Sie fühlte sich gestärkt und wohl und hatte das Gefühl, als seien ihr Flügel gewachsen. Ralf gab auch dazu einen Kommentar ab: „Du verwechselst spirituelles Wachstum mit körperlicher Erholung und weißt nicht, was Selbstfürsorge ist“, sagte er und war erst etwas versöhnlicher gestimmt, als sie ihm von ihrem fehlenden Teil erzählte, den sie wiedergefunden hatte: „Ich hoffe, dass du dann langsam vernünftiger wirst.“
    Lilly dachte an die Schuhe, die sie in Dahab zurückgelassen hatte, und bezweifelte, dass sie vernünftiger geworden war. Sie war dankbar für die Rückführung, gleichzeitig spürte sie, dass ihr der Blick in frühere Leben unheimlich war. Außerdem hatte sie genug in ihrer Gegenwart zu tun.
    Das Thema war aber ohnehin bald wieder vom Tisch, weil Lilly sofort mit Elan in eine neue Geschichte einsteigen wollte. Es war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen, dass Randgruppen, wenn sie nicht ins Bild der sogenannten „gesunden“ Gesellschaft passten, abgesondert wurden. Wieso mussten Alte, Blinde, Behinderte und psychisch Kranke in speziellen Einrichtungen aufbewahrt werden? Warum konnten sie nicht besser in die Gesellschaft integriert werden? Sie dachte an die alte Frau, die in der Servitengasse im Nachthemd herumgeirrt war. Sie lebte jetzt in einem Pflegeheim und siechte vor sich hin. Man hatte ihr jeden sinnvollen Inhalt genommen.
    â€žIch möchte“, sagte sie zu Ralf, nachdem er sich beruhigt hatte, „eine Serie mit dem Titel ‚Die Ausgeschlossenen‘ machen und mit den Blinden anfangen.“ Eine Studie aus Lappland, in der psychisch Kranke, von einem Interventionsteam begleitet, zu Hause versorgt wurden, verschob sie auf später, weil sie sich erst das Material beschaffen musste. Ihre Kontakte zu einer Betreuerin in einem Blindenheim konnte sie sofort nützen.
    Es war Montag. Der Himmel war grau und es nieselte. In Ägypten schien die Sonne und es hatte fünfundzwanzig Grad. Lilly saß in der Redaktion. Sie hatte ihr Wochenende mit Lea verbracht. Reden, spielen, mit dem Schlitten von der Sofienalpe zum Schwarzenbergpark fahren … Sie war müde.
    Als sie sich an den Computer setzte und das Interview mit Hedi, der Betreuerin im Blindenheim, schreiben wollte, das sie am Freitag geführt hatte, merkte sie, dass ihre Hände zitterten und ihr Kopf eine Spange aus Eisen trug, die sie drückte. „Verdammte Scheiße, was ist mit mir los“, sagte sie laut und ungeduldig. Lilly sprach mit sich selber selten liebevoll, das war nicht ihr Stil. Sie hatte von ihrem Vater den Spruch „Was mich nicht umbringt, macht mich härter“ geerbt und sparte ihre sensible Seite für andere auf. Doch es half nichts. Die Vibration in ihrem Körper wollte nicht aufhören und sie dachte daran, dass sie heute Morgen verwundert war über ihren schleppenden Gang, als sie zu Fuß am Donaukanal entlang in die Redaktion spaziert war. Oskar nannte sie manchmal „meine Gazelle“, weil sie mit weit ausholenden, federnden, leichten Schritten ging. Heute Morgen hatte sie ihre Beine hinter sich hergezogen, als ob sie gegen einen Sumpf ankämpfen musste, in denen sie steckten. Sie hatte es als normale Reisemüdigkeit abgetan und sich nicht weiter darum gekümmert. Das war meistens so. Wenn Lilly etwas fehlte, nahm sie es erst ernst, wenn ihr Körper vollkommen streikte. Bis dahin scheuchte sie Beschwerden zur Seite wie lästige Fliegen und ging davon aus, dass sie von selber wieder verschwanden. Meistens war das auch so. Gleichzeitig spürte sie, dass es heute anders war. Ihre Hand verkrampfte sich, als sie sich zum Schreiben zwingen wollte, und ihre Augen begannen zu brennen. Sie hörte Ritas erstaunte Stimme am Telefon, als sie ihr gesagt hatte, dass sie abreisen wollte: „Das wundert mich, ich dachte, dass du für ein paar Tage in die Stille der Wüste kommen wirst, um dich zu erholen.“ Und Ibrahim, der mit stillen, tiefen Beduinenaugen mehr beobachtete als sprach, hatte ihr den ­Hörer aus der Hand genommen: „Du solltest für eine Weile hierbleiben. Hier findest

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