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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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gewesen und für hier zu kalt war, sich mit Wasser vollsaugte. Lilly hatte Angst, zurückzugehen. Was, wenn die beiden Häuser sie immer noch aus schwarzen Fensterhöhlen anstarrten?
    Die Kirchenglocken läuteten wieder. Es war eine Stunde vergangen. Sie gab sich einen Ruck und verließ den magischen Platz. Plötzlich verstand sie, warum Menschen einfach irgendwo erfroren. Es war so schön, in der Natur zu sein und alles hinter sich zurückzulassen. Niemand war da. Weder Oskar noch Niklas. Auch Letizia nicht.
    15. Februar 1989
    Ich kann nicht in unserem kleinen Haus bleiben. Ich lasse für Oskar eine Botschaft auf dem Küchentisch und gehe den Weg zum Hotel zurück. Die weißen Müllsäcke sind längst zerfetzt und hängen an meinen durchweichten Schuhen. Ich müsste den Gummi lösen, der sie an meinen Knöcheln hält, aber ich habe nicht die Kraft dazu. Ich friere. Die Kälte ist in meinem Inneren. Wenn ich weinen könnte, wäre mir vielleicht wärmer. Meine dünnen Lederschuhe sind vollständig nass und ich weiß, dass ich unbedingt warme Füße brauche und einen heißen Tee. In mir weint es. Mama, Mama, Mama. Aber meine Mutter ist vor langer Zeit weggegangen, lange ehe ich geboren war.
    Als das Haus des Fischers an meinem Weg auftaucht, erinnere ich mich daran, dass ich erwachsen bin und für mich selber sorgen muss. Der Fischer öffnet mir sofort die Tür, als ich klopfe. Ich bin nicht sicher, ob er mich als die fröhliche, braun gebrannte Frau wiedererkennt, die im Sommer bei ihm manchmal geräucherte Forellen gekauft hat. Seine Haare sind grau, seine Hände haben Schwielen. Ich habe keine Angst, dass er mich aus der Zeitung erkennt und uns verrät. Er gibt mir neue Plastiksäcke und findet die Idee originell. Als ich wieder ins Schneetreiben hinaustrete, diesmal mit gelben Plastiksäcken an den Füßen, bin ich wieder stark.
    Ich bin Lilly, die eine kleine Ziege in Ägypten kennt, die ihren Namen trägt. Ich bin Lilly, die sich mit einem Muschelmandala in der Wüste verbindet, und ich bin Lilly, die ihre Zwillingsseele gefunden hat.
    Ich leiste keinen Widerstand mehr gegen mein Schicksal. Ich nehme es an und merke, dass es gut ist, dass ich allein geblieben bin, dass ich gezwungen werde, Zeit für mich zu haben. Ich spaziere am See entlang und bitte die Wesen, mir zu helfen, meine neue Identität zu begrüßen.
    Der Platz neben mir füllt sich. Ich spüre, dass das große Loch, das ich versucht habe, mit der Zuneigung anderer Menschen zu stopfen, langsam heilt. Oskar ist plötzlich kein Teil mehr von mir. Ich sehe ihn als einen Mann, der vielleicht seinen Zug verpasst hat, oder den sein Anwalt gebeten hat, zu bleiben. Unser Kind ist bei ihm gut aufgehoben und ich bin bei mir.
    Ich sitze alleine in der Gaststube des Hotels, meine Schuhe trocknen neben der Heizung. Ich trinke Tee, esse eine Suppe und schaue auf den See. Es ist friedlich in mir.
    Vollständig. Das Wort bedeutet, dass ich ständig voll bin. Gefüllt von mir selber und getragen von der großen Mutter, der
wir den Namen Erde gegeben haben. Ich denke mit tiefer Dankbarkeit an Tjalle und Rita und verbeuge mich vor dem Land,
das mir diese Begegnungen ermöglicht hat.
    Die zurückgestutzten Weiden vor dem Fenster sehen jetzt aus wie alte, weise Frauen, und die Stühle, die ihre Lehnen als Schutz gegen den Schnee zu den Biergartentischen neigen, scheinen miteinander zu tuscheln: „Das hat sie gut gemacht!“
    Ein Zyklus endet. Ich sehe den Stein mit dem weißen Kreis vor mir, den mir Rita geschenkt hat, gehe an die Rezeption und rufe Letizia an, die mir erzählt, dass sie eine ganze Hucke voll Holz gesammelt hat. Sie sagt mir, dass Oskar in Kiel geblieben ist, weil sein Anwalt neues Material aus Wien bekommen hat. Ich lege auf und sage zu der jungen Frau, der ich Zimmer 21 verdanke: „Bitte suchen Sie mir eine Zugverbindung nach Wien heraus, ich will nach Hause.“

    12 Hinaus, die Sonne scheint.

8. Kapitel
    Ralf war entsetzt, als Lilly eine Woche früher als geplant in der Redaktion auftauchte. Er hielt ihr einen Vortrag, dass das Leben als verrücktes Huhn gefährlich sei und sie solle sich einmal auf dem Land ansehen, wie viele im wahrsten Sinn des Wortes unter die Räder kämen. Er sagte ihr, dass sie völlig erschöpft aussähe, und brüllte sie an, sie solle endlich Verantwortung für sich

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