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Lillys Weg

Lillys Weg

Titel: Lillys Weg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Renate E. Daimler
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er nicht bemerkt, dass meine feuchten Hände verräterische Spuren auf der glatten Oberfläche des Geräts hinterlassen. Er hält ein Plädoyer dafür, dass die Frauen mehr Macht über ihr Geburtserlebnis haben sollten, dass der weibliche Körper in seiner Weisheit den Geburtsprozess unterstützt, wenn er dabei nicht gestört wird. Nach zwei Stunden ist alles gesagt. Es gibt einen offiziellen Text und einen inoffiziellen Text zwischen uns. Ich packe mein Tonbandgerät ein. Der Reißverschluss meiner Aktentasche macht ein endgültiges Geräusch und ich spüre, dass der Schutz, Journalistin interviewt berühmten Geburtshelfer, in dieser Sekunde endet.
    Malcolm sieht mich an, ohne mich zu berühren: „Shall we make love?“ Und als ich nicke, sperrt er die Tür zum Konferenzraum ab und wir reißen einander die Kleider vom Leib.
    Ich schließe meine Erinnerungskiste. Ich möchte Oskar wecken und mit ihm meine Lust ausleben. Gleichzeitig habe ich ein schlechtes Gewissen, dass das Prickeln in meinem Körper aus der Erinnerung an Malcolm entstanden ist.
    Ich lasse ihn schlafen, und als am Morgen die Kinder er­wachen, sind wir wieder eine heile Familie während der Weihnachtsfeiertage. Selbst Clarissa fügt sich ins Bild und schenkt mir einen Ring, den sie schon von ihrer Mutter bekommen hat. Das geliehene Glück, von dem niemand weiß, wie lange es noch ­dauert, ist wieder zurück und muss wie eine zerbrechliche Porzellanfigur zart behandelt werden.

9. Kapitel
    Lilly spürte das Moos unter ihrem Körper. Der Wald roch nach Harz und frischem Grün und saugte die Wärme auf, die der ungewöhnlich warme März als frühes Geschenk mitgebracht hatte. Über ihr, in dem Ausschnitt, den die hohen Tannen auf der kleinen Lichtung freigaben, hatte der Himmel die Farbe, die sie von heißen Sommertagen in ihrer Kindheit auf dem Vorsäß kannte. Ein helles Blau, wie die Möbel in ihrer Puppenstube. Sie rekelte sich auf dem weichen Waldboden und schloss die Augen wieder. Sie liebte diese besonderen Frühlingstage, wenn die Sonne Versprechungen machte, die sie dann im April nicht halten konnte. Neben sich spürte sie Ella. Sie hatte so wie sie die nackten Arme und Beine weit ausgebreitet und die beiden Frauen genossen die wortlose Verbundenheit. Mit der Natur und miteinander. Lilly mochte das Wort Glück nicht. Es war zerredet, erschöpft und vergiftet von den vielen Forderungen, die an ihm klebten. Gleichzeitig hatte sie noch kein anderes Wort für den Zustand gefunden, der in solchen Momenten jede einzelne ihrer Zellen belebte und sie mit ihrem tiefsten Wesen verband.
    Morgen würde sie zu Oskar nach Kiel fahren. Allein und als Frau. Das hatte sie sich gewünscht, bevor sie die Osterfeiertage mit der ganzen Familie – Clarissa eingeschlossen – im kleinen Haus am See feiern würden. Lea und Niklas waren bei ihrer Großmutter im Bregenzerwald gut aufgehoben. Sie würde mit ihnen den Stoff dieser Woche lernen, den die beiden Klassen­lehrerinnen den Kindern mitgegeben hatten. Ihre Mutter liebte die beiden Enkel mit einer Innigkeit und Hingabe, die Lilly rührte. Es schien, als versuchte sie an ihnen wiedergutzumachen, was sie bei ihrer Tochter unbewusst versäumt hatte.
    Ella und Lilly waren heute auf den Spuren der Waldfrauen oder Beginen unterwegs. Sie hatten sich im 15. Jahrhundert auf dem Hirschberg bei Bregenz angesiedelt und wurden während der Inquisition gezwungen, ihren freien Glauben aufzugeben und in den Klöstern der Umgebung zu leben. Ihre Behausungen waren vom Blitz längst zerstört worden und die kleine, katholische Kapelle unter dem Gipfelkreuz erinnerte nicht an die Frauen, die sich unfreiwillig unter den Schutz der katholischen Kirche begeben hatten.
    Einer der schönsten Wege auf den Hirschberg führt über den Kamm des Pfänders mit seiner Postkartenaussicht auf den Bodensee. Von dort tauchten sie in die Tannenwälder ein, die den Grashügel wie einen schützenden Kranz umgaben. Die beiden Frauen mieden den bequemen Pfad, der für die Touristen im Wanderführer bezeichnet war. Sie folgten schmalen, unmarkierten Wegen, streiften durchs Gehölz und fanden immer wieder „Feenplätze“, wie Ella es nannte.
    Lilly seufzte, als sie spürte, wie die Feuchtigkeit langsam in ihre Kleider kroch. Vor einer Woche war hier noch Schnee gelegen und der Waldboden hatte

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