Lillys Weg
und luden sie zu einem Glas Wein ein. Als sie weiterfuhr, las sie auf der Rückseite des Autos das Schild: âZum Arbeiten zu alt, zum Sterben zu jung, fürs Reisen topfit.â
Es war nicht zu übersehen, dass das weitläufige Anwesen am Flussufer, in dem Lilly wenig später ein groÃes Zimmer mit Blick auf die Weser bezog, ein Geheimtipp für Motorradfahrer war. Ein alter Wehrturm, ein Kuh- und ein Pferdestall waren liebevoll zu einem kleinen Hotel mit Restaurant umgebaut worden. Im groÃen Hof saà eine Gruppe junger Leute in schwarzen Lederhosen in der Abendsonne und trank Bier. Der Besitzer, selber ein passionierter Biker, hatte dieses Paradies geschaffen. Auf der Toilette traf sie eine Frau aus der Gruppe in ihrem Alter, die die insektenverklebte Scheibe ihres Helms wusch.
âSie können sich gern zu uns setzen, wir essen gleich gemeinsam.â
Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend im ehemaligen ÂKuhstall, in dem das Restaurant untergebracht war. Sie trank italienischen Wein, flirtete mit einem der Biker, der gebürtiger Franzose war, und fühlte sich in ihrem neuen, hautengen, pinkÂ-farbenen Kleid, das sie für ihr Treffen mit Oskar gekauft hatte, nach Langem wieder wie eine schöne, begehrenswerte Frau. Später, als sich der Wirt zu ihnen gesellte, erzählte er die Geschichte des ÂPlatzes.
âDen Wehrturm haben die Mönche des Klosters Corvey, das heute ein Schloss ist, gebaut.â Er wandte sich seinem neuen Gast zu: âUnd in Ihrem Appartement im Erdgeschoss wurden die Gefangenen verwahrt. Ihr Schlafzimmer war der gröÃere und Ihr Bad der kleinere Kerker.â Lilly wurde blass und sprang auf: âIch muss sofort telefonieren.â
Das Hoteltelefon für Gäste stand hinter der Bar im Gastraum. Der Wirt schaltete den Zähler ein und Lilly rief in Kiel bei Frau Petersen an. Oskar hatte ihr gestern gesagt, dass er den Abend bei einem Meeting mit den Anwälten verbringen wird, aber er musste jetzt schon wieder zu Hause sein. Seine Zimmerwirtin meldete sich nach langem Läuten, sie hatte wohl schon geschlafen.
âIhr Mann ist leider nicht da, am besten rufen Sie die Anwältin an.â Ihre sonst sanfte, weiche Stimme klang brüchig. Die fröhliche Nomadin war mit einem Schlag verschwunden. Lillys Hand zitterte so stark, dass sie die Nummer kaum wählen konnte. âSie hören den Anrufbeantworter â¦â, sagte die feste Stimme von Frau Hansen, und als Lilly auflegte, hatte die Panik schon ihr Hirn erreicht. Sie konnte sich kaum an Ralfs Nummer erinnern und betete, dass er zu Hause war. Er hob nach dem ersten Läuten ab. âGott sei Dank, ich warte schon den ganzen Tag auf deinen Anruf! Oskar ist heute Vormittag verhaftet worden. Du kannst ihn morgen um vierzehn Uhr besuchen. Seine Anwältin lässt dir ausrichten, dass sie dich anschlieÃend sprechen möchte. In ein paar Stunden wird es in allen Zeitungen stehen.â â âUnd die Kinder?â Lilly taumelte und lieà sich auf einen der antiken Barhocker fallen. Ralfs Stimme klang ruhig, und gleichzeitig spürte Lilly, dass er nervös war. âIch habe Ella schon verständigt. Sie sagt es deiner Mutter und bringt die Kinder mit ihr aufs VorsäÃ, damit sie vor dem Gerede der Nachbarn geschützt sind. Und bitte Lilly, tu jetzt nichts Unüberlegtes! Es macht keinen Sinn, dass du mitten in der Nacht über die Autobahn rast, du kannst Oskar heute nicht mehr helfen.â
Ralfs Stimme hatte ruhig geklungen, weil er Oskars VerÂhaftung längst erwartet hatte. Für ihn war es eher eine ÃberÂraschung gewesen, dass die Kieler Behörden ihn nicht sofort, als Paolo Vicente verhaftet worden war, ebenfalls eingesperrt hatten. Er sah Lilly schon lange dabei zu, wie sie mit Scheuklappen durch die Gegend lief und wie eine Löwin ihre drei Jungen verteidigte. Dass eines davon erwachsen war und möglicherweise nicht ganz unschuldig, wollte sie nicht wissen.
Der Stapel mit der ausführlichen Berichterstattung zum âFall Esmeraldaâ wurde immer höher. Die Ordner mit Material, das Ralf gesammelt hatte, teilweise auf illegalen Wegen, füllten inzwischen schon ein ganzes Regal. Er kannte die Wahrheit auch nicht. Aber für ihn war klar: Die beiden Männer waren in dubiose Geschäfte verwickelt. Und eines ihrer Geschäfte war gründlich schiefgegangen. Aus Ralfs Sicht gab es âOskar, das arme
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