Lillys Weg
vielleicht, wenn man es positiv sehen wollte, hatte sie gelernt, im Augenblick zu leben und jede Minute, in der das Leben unkompliziert war, zu genieÃen. Die Fakten waren alles andere als rosig. Paolo, der sich Âeinige Jahre im Ausland versteckt hatte, war verhaftet worden. Niemand wusste, was ihn dazu bewogen hatte, wieder nach Ãsterreich zurückzukehren. Seither saà er in U-Haft, und der Prozess gegen ihn lief. Das Urteil wurde demnächst erwartet.
Lilly fühlte sich unbeschwert wie ein Kind, das in die Sommerfrische fuhr. Das Cabriolet war ihr neues Spielzeug und die Dörfer am Lech entlang, deren Namen sie schon als kleines Mädchen fasziniert hatten, weckten alte Erinnerungen. Wenn sie mit ihrer Mutter allein nach Wien unterwegs gewesen war, hatten sie immer den Umweg genommen. Sie lächelte, als sie das Ortsschild von Hinterellenbogen las. Sie hatte sich damals gewundert, wie ein ganzes Dorf auf einem Ellenbogen Platz haben sollte und wollte in jedem einzelnen der vielen StraÃenorte stehen bleiben und die geschnitzten Figuren vor den Häusern bewundern. In Elbigenalp gab es eine berühmte Holzschnitzereischule. Sie blieb an einer Stelle stehen, wo der Lech nahe an der StraÃe flieÃt, setzte sich für einen Augenblick ans Ufer und zog sich die Schuhe aus. Sie hatte keinen Plan. Oskar erwartete sie erst morgen. Sie war nur ein einziges Mal die mehr als tausend Kilometer nach Kiel an einem Tag gefahren, und als sie spät am Abend angekommen war, hatte sie am ganzen Körper vor Anstrengung gezittert und den ganzen nächsten Tag gebraucht, um ihre âSeele nachzuholenâ, wie Ella es nannte.
In Reutte in Tirol fuhr Lilly Richtung Füssen und überlegte, ob sie nicht noch bei den Königsschlössern Halt machen sollte. Aber als sie die Autobahnauffahrt sah, kam plötzlich ihre andere Seite durch. Sie fuhr kurz an den StraÃenrand, schlang ein Tuch um ihre Haare, und dann hörte sie ihren Vater. Er hatte diese grauen, effizienten Bänder aus Beton geliebt: âSie verbinden uns so schnell mit der Weltâ, hatte er immer gesagt. Seiner Welt. Mutters Wünsche nach Verbindung waren anderer Natur. Sie tankte, trank Kaffee, aà ein Brötchen im Stehen, ging auf die Toilette und fuhr und fuhr. Schnell und wie besessen.
Jetzt ging es ums Ankommen und nicht mehr ums Verweilen. Bis sie nach fast fünf Stunden das Schild âKasselâ sah. Sie erinnerte sich an die unangenehme Steigung, auf der die Lastwagen im Schneckentempo fuhren, blieb bei der nächsten Raststätte stehen und kaufte sich eine Deutschlandkarte. Die Nomadin, die die Natur liebte, hatte plötzlich genug von grauen Bändern, die Lebensqualität fraÃen und dafür Zeit ausspuckten. Sie sah auf der StraÃenkarte ein dünnes, blaues Band, das sich in Mäandern weit genug weg von der Autobahn durchs Land bis hinauf nach Bremen schlängelte. Die Weser. Lilly wusste nichts von diesem Fluss, falls er wichtig war, hatte sie es im Erdkundeunterricht verpasst. Es genügte ihr, dass die StraÃen schmal und die Orte an seinem Ufer klein aussahen. Hier würde sie irgendwo übernachten. In einem Dorf, das ihr zuwinken würde, so wie das immer war, wenn die Nomadin endlich wieder Raum hatte. Sie dachte weder an Oskar noch an die Kinder, sie war eins mit sich und ihrem weiÃen Auto mit den roten Ledersitzen. Irgendwann sah sie am Ufer der Weser ein Schild: âHöxter Erholungsgeländeâ, und beobachtete ein Wohnmobil, das an dieser Stelle abbog. Sie folgte ihm neugierig. Menschen, die ihr Bett mit sich herumÂfuhren, parkten meistens an idyllischen Plätzen.
Der kleine See, der eingerahmt von Wiesen und Baumgruppen in der Abendsonne lag, war ein unerwartetes Geschenk. Lilly stellte sich auf einen der markierten Parkplätze, zog sich unÂgeniert bis auf die Unterhose aus und sprang ins Wasser. Es hatte nicht mehr als zwölf Grad, aber das störte sie nicht. Sie war die eisige Bregenzer Ache gewohnt und liebte das Prickeln auf ihrer Haut, die sich von der Kälte rötete.
Plötzlich waren Lea und Niklas wieder präsent. Hier würde sie von nun an mit ihnen Rast machen, wenn sie ihren Vater im Sommer in Kiel besuchten. Sie sah den beiden grauhaarigen Wohnmobilisten zu, wie sie einen Campingtisch am Seeufer aufstellten und ihn mit Plastiktellern und Gläsern deckten, die von der Weite wie Porzellan aussahen. Sie winkten ihr zu
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